Nur wenige Künstler:innen haben die Grenzen der Freiheit so ausgelotet und sind mit Strafanzeigen, Protesten und Drohungen verfolgt worden wie Hermann Nitsch. Die Rezeption seiner Kunst ist eine Geschichte des Missverständnisses und der Skandalisierung. Diese Reaktionen der medialen Öffentlichkeit sind nicht verwunderlich, bedenkt man, dass der Künstler zu den Abgründen der Gesellschaft vorzudringen versucht.
Allen Widerständen zum Trotz hat er an seiner Idee einer Fusion aller Künste festgehalten und steht heute als Monolith in der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts. Mit seinem Orgien Mysterien Theater hat er ein Gesamtkunstwerk für alle Sinne geschaffen und die Parameter von Malerei und Theater erweitert. Nitsch hat auch zeit seines Lebens gezeichnet und seine Konzepte für das Orgien Mysterien Theater auf Papier entworfen. "Hermann Nitsch hat in der Schnittstelle von Schrift, Aktion und Zeichnung eine einzigartige Ästhetik entwickelt, die sich in dieser Ausstellung manifestiert. Die Zeichnung begleitete sein Schaffen von Anfang an", so der Kurator Roman Grabner.
Kunst übernimmt die Funktionen der Religionen
In das Orgien Mysterien Theater subsummiert Nitsch alle Aspekte seines Schaffens. 1957 arbeitet der Künstler an der Idee eines gigantischen Dramas, das er als "Kult des Seinsmysteriums" begreift. Beeinflusst von Nietzsches und Schopenhauers Philosophie, der Psychoanalyse Freuds und Jungs sowie der griechischen Tragödie, arbeitet Nitsch an einer großen Kulturcollage. Deren Ziel ist es, die gesamte Menschheitsgeschichte in Schichten übereinanderzulegen und zu einer Essenz zu kondensieren. Nitsch geht es um das unbewusste Triebhafte im Menschen, das durch höchste Erregung in der Kunst zur Abreaktion kommen soll. Sein Orgien Mysterien Theater zielt auf eine Intensivierung der Lebenserfahrung und gesteigerte Daseinsfreude, bei der die Kunst Funktionen der Religionen übernimmt. "Wer meine Arbeit wirklich begreift, müsste erkennen, dass sie ein sakrales Festspiel ist."
Die Ausstellung im Bruseum zeigt die Vielfalt von Nitschs zeichnerischem Œuvre im Überblick: von den frühen informellen "Kritzelzeichnungen" hin zu seinen späten abstrakt-expressiven Ölkreidezeichnungen. Foto: Universalmuseum Joanneum/J.J. Kucek © Bildrecht Wien, 2024
Hermann Nitsch gelangt wie auch seine Mitstreiter im Wiener Aktionismus nach figürlichen Anfängen zur Abstraktion und vollzieht einen Prozess der Erweiterung und Überwindung des Tafelbildes. Noch bevor Nitsch 1957 am Konzept seines Orgien Mysterien Theaters arbeitet, setzt er sich zeichnerisch mit den Themen Leid, Kreuzigung, Tod und Auferstehung auseinander. Zu seinen frühesten Arbeiten zählen Adaptionen alter Meister wie Rembrandts Kreuzigung. Die sogenannten "Kritzelzeichnungen", die von 1959 bis 1961 entstehen, loten den ekstatischen Gestus der frei bewegten Hand aus. Diese Zeichnungen dienen ihm als Ausdrucksform, mit der er das Unbewusste seismografiert.
Nitschs Gesamtkunstwerk: Hinabsteigen in die Tiefen der menschlichen Psyche
Die Zeichnung spielt in seinem Œuvre immer eine zentrale Rolle. Mit den ersten Aktionen visualisiert er Handlungsabläufe und skizziert die Position für Utensilien. Erste Konzeptionen seiner Architektur des Orgien Mysterien Theaters finden sich ab 1964, meist in Heften oder auf kleinformatigen Einzelblättern. Mit der Ausweitung der Aktionen entwickeln sich auch die Zeichnungen und nehmen an Größe zu.
Die Ausstellung im Bruseum zeigt Relikte aus der 16. Aktion, eine Projektion eines skizzierten Handlungsablaufs. Nitsch hat die Längswand des Raumes mit Packpapier ausgekleidet und mit Ölkreide nierenförmige Kreise gezeichnet, in die rohes Fleisch, Fische und Menstruationsbinden genagelt werden. Während des Aktionsablaufs hat er mit "nach hyazinthen riechenden verschiedenfarbigen lippenstiften" [sic!] Linien zwischen den Objekten gezogen.
Sein Werk versteht sich als ein metaphorisches Hinabsteigen in die Tiefen, und seine Zeichnungen ab den 1960er-Jahren stellen unterirdische Architekturanlagen dar, die Körper und Organe nachbilden. Zeitgleich verlagert Nitsch seine Aktionen unter die Erde, was bewusstes Eintauchen in die menschliche Psyche und eine archäologische Spurensuche des kollektiven Unbewussten bedeutet.
Viele Zeichnungen sind direkt mit Kugelschreiber oder Permanentmarker angefertigt. Das verdeutliche, so Kurator Roman Grabner, das große zeichnerische Talent von Hermann Nitsch. Foto: Universalmuseum Joanneum/J.J. Kucek © Bildrecht Wien, 2024
1971 erwirbt Nitsch mit der Hilfe seiner Frau Beate Schloss Prinzendorf, das zum Zentrum seines Orgien Mysterien Theaters werden soll. Im selben Jahr entsteht die erste großformatige Zeichnung, die mit seinem Aktionsdrama "Die Eroberung Jerusalems" verbunden ist.
Mit der Ausarbeitung seines Gedankengebäudes verschmilzt Nitsch das "Naturereignis Mensch" zeichnerisch mit Architekturen und adaptiert christliche Ikonografien. Das Hauptwerk dieser Projektionen ist "Das letzte Abendmahl", das von 1976 bis 1979 entsteht. Ab den 1980er-Jahren erfährt die Zeichnung eine Vervielfältigung im Siebdruck, was ihm ermöglicht, seine Konzeptionen auf Aktionsrelikte zu drucken und stärker in sein Gesamtkunstwerk einzubinden.
Gegen Ende seines Lebens nimmt Nitsch die gesamte Palette der Farben für seine Schüttbilder in Anspruch, und es entstehen farbenprächtige Zeichnungen, die sein Spätwerk prägen und sein Œuvre hoffnungsvoll ausklingen lassen.
Hermann Nitsch. Zeichnungen
bis 23.02.2025
Bruseum, Joanneumsviertel, 8010 Graz
www.bruseum.at
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