Nicht zu den großen "Blockbustern" der Opernliteratur gehört Mieczysław Weinbergs "Der Idiot", sagt Intendant Markus Hinterhäuser ganz zu Beginn. Erst drei Mal, neben einer reduzierten Fassung in Moskau, bei der eigentlichen Uraufführung in Mannheim sowie am Theater an der Wien sei das Werk überhaupt erst aufgeführt worden. Schon in seiner Amtszeit als Intendant der Wiener Festwochen hatte Hinterhäuser Weinberg eine eigene Reihe gewidmet. Diesem für die Katastrophen des 20. Jahrhunderts emblematischen Komponisten einen ihm gebührenden Platz in der Musikgeschichte zuzuweisen, ist ihm ein wichtiges Anliegen.
Als bereits vierte Inszenierung Krzysztof Warlikowskis bei den Salzburger Festspielen ist "Der Idiot" in der diesjährigen Neuproduktion zu sehen. Das Wort "Idiot", sagt er, habe in verschiedenen Sprachen, darunter auch im Russischen, eine durchaus provokante Konnotation, die auch einen erniedrigenden Aspekt beinhalte. "Dostojewski hat aber einen weitaus komplexeren Charakter kreiert, bei ihm ist ‚Idiot' eher die einschränkende Bezeichnung für eine prophetische Figur – für jemanden, der die Wahrheit spricht, der eine höhere Sensibilität und eine besondere Gabe im Vergleich zu anderen hat. Jemand, der einen externen statt einen internen Blick auf die Dinge hat", sagt Warlikowski. Dabei trage die Figur auch etwas Mythologisches in sich, etwas das in anderen Menschen Gefühle der Liebe hervorrufe – etwas, das wiederum Veränderungen und Unheil für andere Menschen hervorrufen könne, wie sich dies dann auch am Ende des Stücks manifestiert. "In der Figur als Außenstehendem sind aber auch christliche Anklänge zu finden. Er konfrontiert sozusagen die Welt mit sich selbst und kündet von bevorstehenden Katastrophen", führt Warlikowski weiter aus.
Krzysztof Warlikowski (Regie) ©SF/Neumayr/Leo
Ihr Debüt am Pult der Wiener Philharmoniker gibt in diesem Jahr Mirga Gražinytė-Tyla, die bereits 2012 als Siegerin aus dem Salzburger Young Conductors Award hervorging. Auf die Frage, was die Musik Weinbergs ausmache, antwortet sie: "Weinbergs Musik suggeriert deutlich, dass er die komplexe Welt Dostojewskis auf eine noch komplexere Ebene heben wollte. Gleichzeitig werden wir dadurch auf einfachste Wahrheiten zurückgeführt. Was Weinberg in dem Stück motivisch macht, ist unglaublich: Beispielsweise hat er auf das System Wagners zurückgegriffen, dieses aber noch um ein Vielfaches multipliziert. In fast jedem Takt finden sich Verbindungen zu anderen Motiven, einem Leitrhythmus oder einer Leitharmonie. Solche Bezüge finden sich zum Teil noch bevor der Name der Figur fällt. Die Musik enthält unglaublich viele Subtexte im Verhältnis der Figuren zueinander."
Schon öfter, etwa im Falstaff des vergangenen Jahres oder in Così fan tutte 2020 hat Bogdan Volkov bei den Salzburger Festspielen mitgewirkt. "Für mich ist es die bisher größte Rolle und eine wunderbare Erfahrung. Für die musikalische Unterstützung, die wir hier erfahren, bin ich sehr dankbar, da es keine einfache Oper ist", sagt er über die Partie des Fürst Lew Nikolajewitsch Myschkin. Zwei Aspekte – den der Schönheit als Mittel zur Rettung der Welt sowie Mitgefühl als einzig gültiges Gesetz der menschlichen Existenz – verkörpert die Figur des Fürst Myschkin für ihn. Besonders aufgrund des von Weinberg selbst erfahrenen Leids durch seine Inhaftierung während des Stalinregimes und den Holocaust haben diese beiden Begriffe für ihn eine große Bedeutung: "Gerade auch in der derzeitigen Welt ist diese Oper ein sehr signifikantes Werk", sagt Volkov.
Auf die Frage, wie sich Mitleid und Mitgefühl aus seiner Sicht in der Figur des Fürst Myschkin widerspiegeln, sagt Warlikowski: "Die menschliche Natur besteht nicht darin, böse zu sein. Nach dem Krieg ging unser aller Bestreben dahin, eine Katharsis, eine bessere Welt zu erschaffen. Genau diese Fortschritte haben wir aber nicht erzielt – im Gegenteil, wir haben Rückschritte gemacht. Wir bewegen uns da, wenn man so will, genau in der Mitte eines dunklen und eines hellen Lichts. Mitgefühl ist etwas, das in uns lebt. Kunst ist etwas, das oft auch für politische Zwecke vereinnahmt wird. Kunst ist aber meiner Meinung nach essentiell, um uns selbst zu heilen und uns wieder in ein Gleichgewicht zu bringen."
Mirga Gražinytė-Tyla (Musikalische Leitung) ©SF/Neumayr/Leo
Gefragt nach dem Verhältnis der Oper zu religiösem Gedankengut, verweist Warlikowski auf Parallelen zu Shakespeare-Figuren wie der des Ariel aus dem Sturm als eine lichtdurchflutete Figur, die weniger an der Dunkelheit von Dostojewskis Text als vielmehr näher an der Philosophie Wittgensteins sei. "Ich persönlich glaube mehr an die Humanität als an Religion, an Figuren, deren Berufung darin besteht, uns aufzurütteln und uns zu erleuchten".
Auf Parallelen zwischen der Figur des Fürst Myschkin und Weinberg selbst weist Mirga Gražinytė-Tyla hin: "Wie Myschkin im Stück mit dem Zug aus der Schweiz ankommt, so kam auch Weinberg damals mit dem Zug in Moskau an. Parallelen spiegeln sich auch in der Namensgebung der Figur wider, in der Weinberg seine eigenen Charakterzüge erkennt. Weinberg möchte in seinem Werk die Dankbarkeit für sein Überleben äußern. In den inneren Zwiespälten und der Lebensgeschichte Myschkins und Weinbergs selbst finden sich viele Gemeinsamkeiten."
Dass es aufgrund der bislang wenigen Aufführungen von "Der Idiot" kaum Referenzwerte gibt, empfindet Gražinytė-Tyla nicht als Nachteil: "Ich sehe darin eine tolle Aufgabe und eine große Herausforderung. Nicht vorhandene Traditionen können sogar eine gewisse Erleichterung darstellen. Wenn man sich so intensiv wie wir in der letzten Zeit damit beschäftigt, stellt man fest, dass es vieles gibt, wohin uns das Stück ganz von selbst führt". Im Vergleich zu Weinbergs Oper Die Passagierin, die sie in diesem Jahr ebenfalls schon dirigiert hat, sei "Der Idiot" das plakativere Stück. Darin gebe es trotz der Dunkelheit von Dostojewskis Text und der Fülle tragischer und dramatischer Ereignisse viele Momente des Lichts und der Freude. Den Vergleich zwischen diesen beiden Opern zieht Warlikowski wie folgt: "Die Passagierin war eine Oper, die Weinberg als Vergangenheitsbewältigung für sich selbst schreiben musste. In 'Der Idiot' geht es Weinberg darum, dass er Frieden mit sich selbst und seinem Leben schließt".
Bogdan Volkov (Fürst Lew Nikolajewitsch Myschkin) ©SF/Neumayr/Leo
Angesprochen auf die Felsenreitschule als Spielstätte, in der er wiederholt inszeniert, sagt er: "Diese riesigen Räume eröffnen Möglichkeiten für eine neue künstlerische Sprache und transportieren eine besondere Energie."
www.salzburgerfestspiele.at
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