Schrift: mehr als eine Kulturtechnik

| Redaktion 
| 05.11.2023

Gastkommentar von Ralf-Wolfgang Lothert, Mitglied der Geschäftsleitung und Director Corporate Affairs & Communication von JTI Austria.

Anlässlich einer Ausstellung im Technischen Museum in Stockholm vor einigen Jahren wurden Besucher:innen nach der wichtigsten Erfindung der Menschheit gefragt, wie vergangene Woche im Radio zu hören war. Mit Verwunderung erzählte die im Beitrag zitierte italienische Schriftexpertin Silvia Ferrara, dass die Schrift von Erwachsenen weit hinter dem Computer auf Platz 38 gereiht wurde, auf der Liste von Jugendlichen kam diese gar nicht vor.

Kulturgut und -technik

Dass es der Schrift als Kulturgut und -technik so wenig gelingt, im Bewusstsein präsent zu sein, ist jedoch nicht nur verwunderlich, sondern auch symptomatisch. Verwunderlich, weil ohne die Schrift eine unüberschaubare Zahl an Errungenschaften gar nicht möglich gewesen wären, vom Buchdruck zum Computer, über das Internet bis hin zu Apps und sämtlichen KI-Programmen, alles davon braucht Sprache, braucht Schrift, Wörter und Zeichen. Symptomatisch, weil die korrekte Anwendung von Schrift und Sprache in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden droht. Für mich als "Kommunikationsmenschen" nimmt das teilweise schon schmerzhafte Ausmaße an.

Die Zeiten, als Bewerbungsschreiben noch von Hand verfasst wurden, weil man sich teilweise auch versprach, aus dem Schriftbild etwas über den Charakter des:der Verfassers:in "herauszulesen", sind natürlich längst passé. Doch dann ging es Schlag auf Schlag: Mit dem breiteren Aufkommen von Mobiltelefonen brach sich vor mittlerweile über 30 Jahren eine besondere Errungenschaft Bahn, nämlich die SMS (Short Message Service). Die bis zu maximal 160 möglichen Zeichen beflügelten die Kreativität, sich so kurz wie möglich und dennoch verständlich auszudrücken. Twitter, inzwischen X, schlug in ebendiese Kerbe. Sehr zum Leidwesen der Sprachqualität haben sich seither Abkürzungen wie YOLO, OMG oder LOL etabliert, Letzteres ("laughing out loud") hat mit der Bedeutung "drückt (meist in geschriebenen Texten) große Heiterkeit aus" sogar Einzug in den Duden gehalten. Die SMS wurde zwischenzeitlich von zig anderen Messengerdiensten verdrängt, der korrekten Verwendung von Schrift wird jedoch in keinem dieser große Bedeutung beigemessen.

Ob das überhaupt eine so große Rolle spielt, ist eine Frage, die auf einem ganz anderen Blatt steht, nämlich, wenn jemand das Lesen und Schreiben überhaupt nicht oder sehr mangelhaft beherrscht. Offizielle Zahlen dazu gibt es keine, vermutet wird jedoch, dass in Österreich circa 15 Prozent nach Absolvierung der Pflichtschule nicht ausreichend bzw. sinnerfassend lesen und schreiben können. Rund eine Million funktionelle Analphabet:innen soll es in Österreich laut Schätzungen geben, das ist jeder neunte Mensch, in Deutschland soll jeder siebente Erwachsene funktionelle:r Analphabet:in sein. Dass dies hohe Benachteiligungen im Berufsleben und im Alltag nach sich zieht, liegt auf der Hand. Verträge, Beipackzettel, Formulare, Hinweisschilder, ja selbst die Speisekarte wird zum Problem. Analphabetismus hat dabei nichts mit mangelnder Intelligenz zu tun, und Betroffene haben oft ausgeklügelte Strategien entwickelt, mit denen sie dennoch ihren Alltag bestreiten können – wie gut oder schlecht sei dahingestellt, das Defizit ist jedoch meistens schambehaftet.

Moderne Technologien – deren Ursprung aber ebenso auf Schrift basiert – machen es indes noch einfacher, ohne Lese- und Schreibkompetenz auszukommen. Das ist per se auch gar nicht negativ zu beurteilen, denken wir etwa an Programme, die das gesprochene Wort niederschreiben oder das geschriebene Wort vorlesen können, was nicht nur Zeit spart sondern in hohem Maße zu Barrierefreiheit für Menschen mit eingeschränktem Sehvermögen beiträgt. Oder an Übersetzungsprogramme, die es uns in einem Land, dessen Sprache wir nicht beherrschen dennoch ermöglichen, uns relativ einfach zu verständigen. Durch den Einsatz von KI sind sogar Rechtschreib- und Grammatikfehler obsolet geworden, KI-generierte Texte sind frei davon und daher auch als solche zu "entlarven".

Die Schriftexpertin malt indes ein (für meine Begriffe Schreckens-) Szenario an die Wand, wonach die Schrift über kurz oder lang verschwinden und durch Technologien, die mit ihrer Hilfe entstanden sind, ersetzt werden – so ihre These. Ein spannendes Feld, das man sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht wirklich vorstellen kann.

Bewahrung von Kunst, Kultur, Geschichte und Wissen

Denn selbst wenn wir heutzutage teilweise über Informationsflut und -überlastung klagen, so ist Schrift viel mehr als das Aneinanderreihen von Buchstaben und Satzzeichen. Wir (ge-)brauchen und benutzen sie zur Bewahrung von Kunst, Kultur, von Geschichte und Wissen. Schrift ist unerlässlich für die Verständigung, nicht nur im Wirtschaftsleben. Sie ermöglicht Bildung und Information, was in der Geschichte der Menschheit auch vielfach zu niederen Zwecken missbraucht wurde und teilweise leider immer noch wird. Nicht umsonst werden in Diktaturen Propaganda und Zensur als probate Mittel eingesetzt, um die Bevölkerung zu lenken. Schrift ermöglicht(e) auf der anderen Seite auch Aufklärung und Demokratie.

Wieviel Wissen wäre uns ohne schriftliche Dokumentation verloren gegangen? Wieviel können wir aus der Schrift über weit zurückliegende oder sogar längst ausgestorbene Kulturen erfahren? Ja selbst, wieviel der 239-jährigen Unternehmensgeschichte von JTI Austria wäre unwiederbringlich in Vergessenheit geraten, wenn sie nicht auch aufgeschrieben worden wäre? Und schließlich – gut erkennbar mit dem etablierten Schriftzeichen ;-) versehen – gäbe es ohne Schrift auch keine Gastkommentare, ein wirklich unschöner Gedanke...und gleichzeitig eine Anregung, vielleicht wieder einmal eine Notiz, eine Einladung oder gar einen Brief handschriftlich zu Papier zu bringen.

www.jti.com


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