Auf Substanz bauen
Rita Reisinger und Doris Kutscher: "Bestandserhaltung ist eine Chance und kein Hindernis"

| Julia Weninger 
| 25.11.2024

Im Interview verraten die Architekturschaffenden, wie ihre Freundschaft zur Basis ihrer Arbeit wurde, warum Substanz mehr ist als nur ein architektonischer Begriff, wie ihre Projekte wie Vienna One oder Havienne den Wert von Nachhaltigkeit verdeutlichen, warum es eine "Fondazione Prada" in Wien braucht und welche Forderungen sie an Politik und Gesellschaft haben, um zukunftsfähige Lösungen zu etablieren.

"Wir bauen auf Substanz", so lautet der Claim von Rita Reisinger und Doris Kutscher. Für die beiden Unternehmerinnen ist das mehr als ein Motto und auch weit mehr als ein architektonisches Prinzip – denn es beschreibt auch die Basis ihrerZusammenarbeit und die Werte, die sie als Team ausmachen. "Unsere Freundschaft ist das Fundament, das uns trägt und unsere gemeinsame Arbeit prägt. Sie ist die Substanz, auf der wir unser Vertrauen, unsere Kommunikation und unser kreatives Schaffen aufbauen", so Rita Reisinger und Doris Kutscher, die seit mehr als 20 Jahren auf die Sanierung und Neugestaltung von Gebäuden spezialisiert sind und seit Juni 2024 unter der gemeinsamen Marke REISINGER KUTSCHER firmieren. Ihr Ziel: Ein starkes Zeichen für nachhaltige Architektur in der modernen Stadtplanung setzen.


Ihre Freundschaft ist das Fundament des Erfolgs. Wie hat diese tiefe Verbindung Eure Arbeitsweise geprägt und beeinflusst?

Diese Freundschaft ist nicht nur unsere Stärke, sondern auch die Grundlage, auf der wir unsere Arbeit aufbauen. Schon während unseres Studiums haben wir in gemeinsamen Zeichenstunden und Gesprächen über Lebenspläne eine kreative Harmonie entwickelt, die uns bis heute begleitet. Wir haben früh gelernt, offen und ehrlich miteinander umzugehen und uns gegenseitig zu unterstützen. Diese Basis ermöglicht es uns, auch in herausfordernden beruflichen Situationen aufeinander zu vertrauen. Kurz gesagt: Eine gemeinsame Vision, Vertrauen und Offenheit, kreative Synergien und Resilienz sind die Eckpfeiler.

Ein Rückblick auf das erste gemeinsame Projekt?

Die Sanierung eines Studentenwohnheims in Leoben – war ein symbolischer Neustart. Es verband unsere persönlichen Anfänge mit unserer beruflichen Zukunft und stärkte uns in unserem Wunsch, gemeinsam etwas zu schaffen, das Bestand hat. Heute, mit einer ganzen Reihe gemeinsamer Projekte hinter uns, bleibt unsere Freundschaft der Schlüssel zu unserer kreativen und professionellen Stärke.

Unsere Zusammenarbeit ist ein Abbild dessen, was wir auch in der Architektur anstreben: Wir bauen auf einer starken Grundlage, entwickeln uns stetig weiter und schaffen durch Kreativität und Respekt etwas von bleibendem Wert. Diese Haltung ist es, die uns als Team erfolgreich macht und unsere Projekte besonders prägt.

Wie entscheiden Sie, ob ein Gebäude genügend Substanz hat, um revitalisiert und modern genutzt zu werden?

Die Entscheidung zur Revitalisierung eines Gebäudes basiert auf einer umfassenden Bewertung seiner Substanz, die Fachwissen, architektonische Philosophie und Nachhaltigkeit vereint. Sieben Kriterien - strukturelle Stabilität, architektonische Qualität, Flexibilität, Nachhaltigkeit, Standort, Wirtschaftlichkeit und kulturelle Bindung - spielen die größten Rollen bei der Entscheidungsfindung.

Technische und kreative Analysen führen dann zu nachhaltigen und funktionalen Lösungen. Ziel ist es, inspirierende und zukunftsfähige Räume zu schaffen. Überzeugt die Substanz, wird die Revitalisierung vorgeschlagen.

Nachhaltigkeit ist bei Ihnen ein zentraler Bestandteil der Arbeit. Wie setzen Sie diesen Wert konkret in den Projekten um – sei es durch Materialien, Bauweisen oder langfristige Nutzungsansätze?

Seit über 25 Jahren schaffen wir nachhaltige Architektur, die Tradition und Moderne verbindet, Ressourcen schont und Altbauten in zukunftsfähige Räume verwandelt. Unser Ansatz basiert auf ökologischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Verantwortung. Das beginnt bei der Materialwahl und führt über Substanzerhalt bis hin zur energetischen Optimierung und zur sozialen Nachhaltigkeit. Dieser Ansatz ermöglicht ökologisch, wirtschaftlich und sozial nachhaltige Lösungen.

Beim Projekt Vienna One haben Sie eine alte Produktionsstätte in ein modernes Forschungszentrum verwandelt. Was macht dieses Projekt  zu einer Blaupause nachhaltiger Sanierung?

Vienna One ist für uns ein Paradebeispiel dafür, wie aus einer unscheinbaren Produktionsstätte ein Leuchtturm nachhaltiger Architektur entstehen kann. Es zeigt, dass Revitalisierung nicht nur ressourcenschonend und ökologisch sinnvoll ist, sondern auch architektonisch und städtebaulich einen echten Mehrwert schaffen kann. Dieses Projekt verdeutlicht, dass nachhaltige Sanierung nicht nur möglich, sondern auch wegweisend für die Zukunft ist.

Was macht das Projekt so besonders?

Zuerst einmal der Erhalt und Transformation der Substanz: Vienna One steht exemplarisch für unseren Ansatz, mit dem Bestand zu arbeiten statt neu zu bauen. Die ursprüngliche Produktionsstätte aus den 1960er Jahren wurde so umgestaltet, dass ihre Grundstruktur erhalten blieb, während sie für moderne Anforderungen adaptiert wurde. Diese Strategie reduziert nicht nur den Ressourcenverbrauch, sondern bewahrt auch die städtebauliche Geschichte des Standorts.

Auch energetische Effizienz spielt eine große Rolle: Durch eine umfassende thermische Sanierung in Kombination mit einem außenliegenden Sonnenschutz wird das Gebäude vor Überhitzung geschützt und der Energiebedarf für Kühlung erheblich reduziert. Hinzu kommt die Installation einer Photovoltaikanlage, die eine bemerkenswerte Stromeigenabdeckung von etwa 60% ermöglicht. Diese Maßnahmen zeigen, wie nachhaltige Technologien die Umweltbelastung minimieren und langfristige Betriebskosten senken können. Das Monitoring zeigt, dass die CO2 Einsparung aufgrund des geringeren Heizwärmebedarfs im laufenden Betrieb bei ca. 50% liegt.

Die aufgebrochene Fassade mit großzügigen Glaselementen im Erdgeschoß verbindet das Gebäude mit dem urbanen Raum. Dies ist nicht nur ästhetisch ansprechend, sondern schafft auch eine transparente, einladende Atmosphäre. Der Showroom dient als Schnittstelle zwischen Wissenschaft, Technologie und Öffentlichkeit und macht die Forschung im Gebäude sichtbar und zugänglich.

Wie kann so ein Projekt zur wirtschaftlichen Entwicklung der Umgebung beitragen?

Indem ein altes Industriegebäude in ein hochmodernes Forschungszentrum umgewandelt wurde, trägt das Projekt zur wirtschaftlichen und städtebaulichen Entwicklung der Umgebung bei. Gleichzeitig symbolisiert es, wie innovative Arbeitswelten geschaffen werden können, ohne die Ressourcen für einen Neubau zu beanspruchen.
Das Projekt demonstriert zudem , wie nachhaltige Sanierung nicht nur den ökologischen Fußabdruck eines Gebäudes reduziert, sondern auch langfristig wirtschaftliche Vorteile bringt und einen Beitrag zur urbanen Gemeinschaft leistet.

Das Havienne-Projekt ist ein weiteres Beispiel für "auf Substanz bauen". Wie haben Sie hier den historischen Charakter mit modernen Ansprüchen verknüpft?

 Havienne vereint historisches Erscheinungsbild und moderne Ansprüche. Die denkmalgeschützte Marinekaserne Tegetthoff aus 1938 wurde sorgfältig restauriert und in ein Wohnensemble mit 18 luxuriösen Apartments umgewandelt. Dabei blieb das historische Erscheinungsbild erhalten, während die Innenräume zeitgemäßen Komfort bieten, inklusive beeindruckender Donau-Blicke.

Zwei moderne Holz-Bungalows ergänzen das Ensemble und setzen mit klarer Architektur und nachhaltiger Heiz- und Kühltechnik bewusste Akzente. Diese gelungene Verschmelzung von Tradition und Moderne, die das Leben am Wasser auf einzigartige Weise neu definiert, wurde 2018 mit dem Fiabci Prix d’Excellence Austria in der Kategorie Altbau ausgezeichnet.

Was wünschen Sie sich von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, um Projekte wie Vienna One oder Havienne in Zukunft einfacher und noch nachhaltiger umsetzen zu können?

Wir wünschen uns von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ein stärkeres Bewusstsein für den Wert bestehender Bausubstanz – als Teil unserer Geschichte und als Ressource für eine nachhaltige Zukunft. Projekte wie Vienna One zeigen das Potenzial achtsamer Bestandserhaltung, doch es braucht klare Rahmenbedingungen und gemeinsames Engagement wie beispielsweise eine Förderung von Bestandsbauten durch steuerliche Anreize, Sanierungszuschüsse und vereinfachte Genehmigungsverfahren, eine Priorisierung von ressourcenschonenden Sanierungen gegenüber Neubauten. Es braucht ein Zusammenspiel aller Akteure, um nachhaltige Sanierungen zur Regel und nicht zur Ausnahme zu machen.

Wenn Sie frei wählen könnten: Welche Art von Projekt würden Sie gerne als nächstes umsetzen, um  ihre Visionen auf ein neues Level zu heben?

Eine Art "Fondazione Prada" in Wien. Das wäre tatsächlich genau Unseres. Als Anknüpfung an unser Projekt "Vienna One" ist unsere Vision weitere Bestandsobjekte von Unternehmen zu modernen Firmenstandorten zu transformieren.

www.reisingerkutscher.com

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