In den 1990er-Jahren erregte ORLAN mit den chirurgischen Performance-Eingriffen an ihrem Körper großes Aufsehen. Ihr Frühwerk blieb hingegen nahezu unbekannt. Die rund 50 Kunstwerke umfassende, retrospektive Schau "ORLAN. SIX DECADES" in der Vertikalen Galerie legt daher den Fokus auf die 1960er- und 1970er-Jahre und spannt gleichzeitig einen Bogen zu aktuellen Arbeiten.
Subjekt und Objekt in einem
Es gibt kaum eine Künstlerin, die sich so radikal der Öffentlichkeit ausgesetzt hat. Ihre Performances reflektieren kulturelle, politische und gesellschaftliche Bedingungen, unter denen sich der weibliche Körper zu behaupten hat. ORLAN inszeniert sich gleichzeitig als Subjekt und als Objekt. Sie gebiert eine zweite Gestalt, ihr künstlerisches Selbst und bestimmt somit ihre neue Identität.
Der Kuss der Künstlerin
In den 1970er-Jahren vollzieht sie den Bruch mit dem ihr gegebenen Namen. Sie behält die Silbe "OR", im Französischen bedeutet es Gold, und fügt "LAN" hinzu. Ihr selbst gewählter Name, ausschließlich in Versalien geschrieben, lässt sich keinem bestimmten Geschlecht mehr zuordnen. In den 1970er-Jahren entstehen wegweisende Aktionen, wie die Performance Le Baiser de l’Artiste (Der Kuss der Künstlerin), in der sie 1977 auf der Kunstmesse FIAC im Pariser Grande Palais für 5 Francs einen Kuss zum Verkauf anbietet. ORLAN prangert hiermit zwei Stereotype an, denen Frauen immer wieder ausgesetzt sind: die Heilige und die Prostituierte. Le Baiser de l’Artiste zählt zu den mutigsten künstlerischen Aktionen des 20. Jahrhunderts und löst einen Skandal aus, woraufhin die Künstlerin angefeindet wird, ihre Anstellung als Lehrende verliert und plötzlich ohne Einkommen ist.
Gabriele Schor, Kuratorin und Gründungsdirektorin der Sammlung Verbund, erklärt: "ORLANs Frühwerk reflektiert radikal die Stellung der Frau in der Gesellschaft und hinterfragt die Darstellung des weiblichen Körpers in der traditionellen Kunst. Das Frühwerk macht deutlich, dass die Künstlerin eine herausragende Repräsentantin der Feministischen Avantgarde ist, deren Anliegen es ist, das sogenannte 'Private' als eine politische Kategorie zu verhandeln."
80er und 90er Jahre
In den 1980er-Jahren beschäftigt sich ORLAN intensiv mit der Epoche des Barocks. Inspiriert von Lorenzo Bernini inszeniert sie sich als Madonna in unterschiedlichen Posen und erschafft imposante Faltenskulpturen. Mit ihrem Manifest L‘Art Charnel (Fleischeskunst) verfasst ORLAN 1989 die theoretische Grundlage ihrer chirurgischen Performance-Eingriffe, die sie neun Mal von 1990 bis 1993 durchführt. ORLAN wirft mit diesen Performances wichtige Fragen auf: Wer gibt vor, wie ein Gesicht, ein weiblicher Körper auszusehen hat? Nach welchen Normen richtet sich unsere Vorstellung von Schönheit? Es geht ihr also darum, selbst zu entscheiden, wie sie aussehen will, und keiner ästhetischen Norm zu erliegen.
2000er Jahre
Ab den 2000er-Jahren beschäftigt sich ORLAN in ihren Kunstwerken vermehrt mit Themen aus dem Bereich der Biotechnologie und Robotik und nutzt dabei Techniken wie Augmented Reality und Videoanimation. Die Ausstellung in der Vertikalen Galerie schließt mit Frauenporträts von 2019 ab. In Anspielung an die klassische Darstellung von Frauen als Muse kreuzt ORLAN ihr eigenes Porträt mit Werken von Pablo Picasso und schafft dadurch wütende und weinende Frauenfiguren auf ironisch poppige Art.
LEADERSNET.tv war bei der Eröffnung dieser Ausstellung dabei und hat die Künstlerin ORLAN, die Kuratorin und Gründungsdirektorin der Sammlung Verbund, Gabriele Schor, die Staatssekretärin für Kunst und Kultur, Andrea Mayer sowie den Vorstandsvorsitzenden der Verbund AG, Michael Strugl, vor die Kamera gebeten.
www.verbund.com
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