Europas High-Tech-Branchen steht am Wendepunkt

Kearney-Studie zeigt: Europas Industrien verlieren den Anschluss.

Corona als Nagelprobe: "Die globalen politischen Turbulenzen und die Pandemie haben die Verwundbarkeit Europas aufgedeckt", sagt Dieter Gerdemann, Partner und Technologie-Experte der globalen Managementberatung Kearney. "Etwa 20 Prozent der europäischen Bruttowertschöpfung hängen schon heute direkt oder indirekt von High-Tech ab. Verschärfter Protektionismus, lokal begrenzte Tech-Cluster und brüchige Lieferketten machen Europa besonders verwundbar."

Gerdemann und seine Kolleginnen und Kollegen haben in der Studie "The tipping point for European high-tech: catch up or lose out" die Machtverhältnisse der globalen High-Tech-Branche und die Abhängigkeiten der europäischen Industrie insbesondere von China untersucht. Ein zuverlässiger High-Tech-Zugang sei nicht nur für Unternehmen von entscheidender Bedeutung, sondern sei auch Voraussetzung für wirtschaftliche Unabhängigkeit, bringen sie die Studie auf den Punkt.

100 Top-Manager befragt

Unter anderem wurden rund 100 Top-Manager in Europa, China und den USA befragt: Gut 80 Prozent bewerten Chinas High-Tech-Fähigkeiten auf einem hohen oder sehr hohen Niveau, mehr als in jedem europäischen Land. 58 Prozent der europäischen Führungskräfte sehen eine hohe oder sehr hohe Abhängigkeit ihres Unternehmens von China bei der Lieferung von High-Tech-Komponenten. Trotzdem planen immerhin rund 70 Prozent der befragten europäischen Führungskräfte, F&E-Fähigkeiten in ihr Heimatland zurückzuholen.

Weltweit ist die Industrie für High-Tech-Komponenten und -Systeme ca. 1,2 Billionen US-Dollar wert und wächst seit 2014 jährlich um 14,5 Prozent. Zählt man das breitere High-Tech-Spektrum, also Produkte und Services, die von High-Tech-Komponenten und Systemen abhängen, hinzu, dann beläuft sich der Wert sogar auf 5,65 Billionen US-Dollar. Mittlerweile macht dieser Sektor somit ca. sieben Prozent des weltweiten Bruttoinlandprodukts aus, Tendenz stark steigend, da immer mehr Branchen von Tech-Komponenten abhängig werden.

Patente: China explodiert, Europa stagniert

China kämpft sich in den kritischen High-Tech-Bereichen Richtung Spitze. 2019 wurden in China 3,6 Mal so viele High-Tech-Patente angemeldet wie 2014. Anders ausgedrückt: Auf ein europäisches High-Tech-Patent kamen 2019 mehr als 12,2 High-Tech-Patente aus Fernost, insbesondere in den Bereichen Batterie, Cloud und KI. 2014 lag dieses Verhältnis noch bei 1 zu 3,2.

Bei den Ausgaben der Unternehmen für Forschung und Entwicklung liegt Europa (EU27) um das 1,3-fache hinter den USA und China und gibt im Verhältnis zum lokalen Bruttoinlandsprodukt weniger aus als Japan. "Zwar kann der europäische Wirtschaftsmotor Deutschland mit anderen wichtigen Akteuren wie Südkorea und Japan konkurrieren, bei Großbritannien, Frankreich und Italien sieht das Bild jedoch verheerend aus", erklärt Arndt Heinrich, Co-Autor der Studie.

© Kearney/Sedat Mehder
Dieter Gerdemann und Arndt Heinrich © Kearney/Sedat Mehder

Thron der alten Welt wackelt

Auch im Telekommunikationsbereich plant China die alte Welt vom Thron zu stoßen. Speerspitze ist hier der Tech-Gigant Huawei, der sich mit seinen Entwicklungen im 5G-Bereich einen Technologie-Vorsprung von zwei Jahren gegenüber seinen europäischen Wettbewerbern wie Nokia und Ericsson sichern konnte. Bei Halbleitern sind die USA und Europa jedoch noch führend bei der Festlegung globaler Standards und einer Vielzahl weiterer Anwendungen. Diese Führungsposition könnte sich jedoch angesichts der Agenda Chinas "Made in China 2025" schnell ändern.

China stellt mit seiner "Made in China 2025"-Strategie wichtige Weichen, um in Kern-Technologien des High Tech-Bereichs autark zu werden. Bis 2049 soll das Land dann zur technologischen Supermacht aufsteigen. Die USA und Europa müssen noch einen Weg finden, um dem Ziel der chinesischen Regierung etwas entgegenzusetzen und Kontrolle über die kritischen Technologien zu gewährleisten. Zwischen 2009 und 2018 ist der Wert der Produkte, die von importbeschränkenden Maßnahmen der G20-Länder betroffen sind, von 68 Milliarden auf 1,3 Billionen US-Dollar – um das 19-fache – gestiegen.

Die neue Abhängigkeit bei Akkus "Made in China"

Europa begibt sich, z.B. mit dem Import von Akkus, in neue Abhängigkeiten. Mittlerweile werden ca. 70 Prozent aller Lithium-Ionen-Batterien in China gefertigt. Da in Europa aber nur drei Prozent der Lithium-Ionen-Batterien hergestellt werden, musste für fast jedes europäische Elektrofahrzeug eine Batterie importiert werden.

Europa bläst, getrieben durch immer strengere CO2-Vorschriften, zur Aufholjagd und droht trotzdem zu scheitern. „Mit neuen Gigafabriken soll die Nachfrage befriedigt werden, doch es gibt einen Haken. Da Europa weltweit im Jahr 2023 einen Anteil von 35 Prozent an Batterie-elektrischen Fahrzeugen halten wird und doch nur 15 Prozent am globalen Lithium-Ionen-Batteriemarkt, wird die stetig wachsende Nachfrage der Automobilbauer nicht befriedigt werden können", so Gerdemann.

Länderübergreifende Kooperationen

Gerdemann empfiehlt, dass sich Unternehmen in länderübergreifenden Kooperationen mittels Schutzmaßnahmen entlang der gesamten Wertschöpfung von Forschung und Entwicklung, Innovation, geistigem Eigentum bis hin zu Lieferung und Fertigung gegen Störungen der globalen Versorgung mit Technologie absichern. Laut Gerdemann besitzt heute keine Region den kompletten "Technologie-Stack" für High-Tech.

Auch wenn China sich zum Ziel gesetzt hat, den "Technologie-Stack" lokal zu besetzen, empfiehlt Gerdemann, dass sich Europa auf seine technologischen Kernkompetenzen konzentriert und diese konsequent ausbaut. Dazu gehöre auch der Schutz dieser Kompetenzen vor interkontinentalen M&A-Aktivitäten. Nur wenn Europa eigene technologische "Assets" mit globaler Bedeutung halte, könne eine wechselseitige Abhängigkeit zwischen den Regionen geschaffen werden und Europa sich vor Protektionismus in einzelnen Regionen schützen.

Dieser Ansatz müsse durch ein ganzes Bündel an Maßnahmen auf Regierungsebene unterstützt werden wie steuerliche Anreize zur Steigerung der Attraktivität von High-Tech-Investitionen und Senkung der Einstiegshürden auf dem europäischen Arbeitsmarkt für MINT-Studenten. "Trotz der anhaltenden COVID-19-Krise ist es jetzt an der Zeit, länderübergreifend an einem Strang zu ziehen, um den Absturz von Europas High-Tech-Industrie in die Bedeutungslosigkeit zu verhindern", sagt Gerdemann. (as)

www.kearney.at

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