Autorin: Doris Neubauer
LEADERSNET veröffentlicht nun regelmäßig Interviews, Porträts und Servicegeschichten von aehre. Dabei befasst sich das Nachhaltigkeits-Businessmagazin stets mit einem der zentralen Themen der Gegenwart: Nachhaltigkeit, in allen ihren Facetten von Environment über Social bis Governance.
Nachdem es in der vergangenen Woche bereits um das Thema Behinderung als Chance gegangen war, dreht sich dieses Mal alles um Inklusion als Superkraft. Die Forschung zeigt: Diversität und Inklusion lohnen sich. Dennoch werden Menschen mit Behinderungen auf dem Arbeitsmarkt weiterhin diskriminiert. Wie soziales Engagement und wirtschaftliches Denken Hand in Hand gehen, leben mutige Unternehmer:innen vor.
Geht der Handybildschirm zu Bruch oder ergießt sich der Morgenkaffee über den Laptop, kann oft die beste Versicherung nicht helfen: Bei 30 bis 50 Prozent aller elektronischen Produkte ist eine Reparatur zu zeitaufwendig oder es ist nichts mehr zu retten. Im IT-Unternehmen Glad Teknik (übersetzt: "Fröhliche Technik") in einer Kleinstadt bei Kopenhagen liegt die Quote deutlich höher. "Bei uns werden 95 Prozent aller Schäden repariert", erklärt Gründer Mathias Nielsen. Warum? "Unsere Mitarbeitenden denken um die Ecke und geben nicht so schnell auf." Die 52-köpfige Belegschaft tickt eben anders: Über 80 Prozent leben mit einer oder mehreren Diagnosen wie Autismus, ADHS oder Legasthenie.
75,1 Prozent der Fachkräfte von morgen erwarten von Unternehmen, dass diese Maßnahmen zu Diversität und Inklusion am Arbeitsplatz ergreifen.
Diagnose: Geschenk mit Aha-Effekt
Auch der Gründer selbst: "Einen Tag vor meinem 19. Geburtstag wurde eine Autismusstörung diagnostiziert", spricht Nielsen von einem "Geschenk mit Aha-Effekt", das viele Verhaltensweisen erklärte. Im Berufsleben fand er sich dennoch schwer zurecht: "Die Umgebung war zu laut", erzählt er, "in den ersten sechs Monaten meines Praktikums in einem IT-Reparaturbetrieb stellte ich so viele Fragen, dass mich mein direkter Vorgesetzter feuern wollte." Dessen Chef erkannte jedoch Nielsens Talent. Der Praktikant konnte einen Computer auseinandernehmen und wusste nach der Mittagspause noch, wo, welche der 300 Schrauben hingehörte.
"Superkräfte" wie diese sind Grund für den wirtschaftlichen Erfolg von Glad Teknik, davon ist der 32-Jährige überzeugt. Ursprünglich wollte er nur einen Arbeitsplatz schaffen, der seinen eigenen Bedürfnissen entsprach. Keine zwei Wochen nach der Gründung erhielt er einen Anruf: Ein junger Mann, der isoliert im Keller seines Elternhauses lebte, sollte in den Arbeitsmarkt integriert werden. "Ich habe mich in seiner Geschichte wiedererkannt", gesteht Nielsen, "und weil mir das Berufspraktikum sehr geholfen hat, wollte ich ihm die gleiche Chance bieten."
Starkes Team. Wie Gründer Mathias Nielsen leben 80 Prozent der Mitarbeitenden von Glad Teknik mit einer oder mehreren Diagnosen wie Autismus, ADHS oder Legasthenie © Lukas Ilgner
Kleine Veränderung, große Wirkung
Sechs Jahre später ist der junge Mann ein loyaler Teilzeitmitarbeiter, und Glad Teknik gilt als Vorzeigeunternehmen für Inklusion. Damit alle Angestellten entspannt und ohne Reizüberflutung arbeiten können, wurden kleine, Schall absorbierende Räume eingerichtet. Das GladBuddy-System und ein ausgeklügelter Onboarding-Prozess helfen, die individuellen Herausforderungen kennenzulernen und zu überwinden. "Ich kann gut Out-of-the-Box denken und Probleme lösen", kommt der Firma eine weitere von Nielsens Superkräften zugute. Als ein neuer Kollege verriet, dass er nie vor 5 Uhr morgens einschlafen würde, verlegte der Firmenchef Besprechungen kurzerhand auf den frühen Nachmittag. "Es war eine kleine Veränderung", meint der Jungvater, "aber sie hat sein Leben verbessert."
»Unsere Mitarbeitenden denken um die Ecke und geben nicht so schnell auf.« Mathias Nielsen, Gründer von Glad Teknik
200 bis 300 Bewerbungen pro Monat erhält Nielsen – trotz Fachkräftemangels. "40.000 Menschen in Dänemark leben mit einer Diagnose", kennt er das ungenutzte Potenzial. "Ja, die Einarbeitung dauert länger, und Flexibilität ist notwendig", gibt der Firmenchef zu. Der Aufwand mache sich aber bezahlt: "Man gewinnt loyale und glückliche Mitarbeitende."
Ängste, Mythen und Vorurteile
Zahlreiche Studien untermauern seine Einschätzung. Trotzdem werden auch hierzulande die rund 1,4 Millionen Menschen, die laut Österreichischem Behindertenrat mit einer Beeinträchtigung leben, auf dem Arbeitsmarkt diskriminiert. Dabei sind Unternehmen gesetzlich verpflichtet, pro 25 Mitarbeiter:innen eine "begünstigt behinderte Person" zu beschäftigen. Das sind Menschen, die einen Grad der Behinderung von mindestens 50 Prozent aufweisen. Doch es gibt ein Schlupfloch: Fast 90 Prozent der österreichischen Betriebe bevorzugen es, eine "Ausgleichstaxe" zwischen 320 und 477 Euro pro Monat und nicht besetzter Stelle zu bezahlen.
Die Gründe reichen von der praktischen Umsetzung bis zur Angst der Arbeitgebenden vor einer geringeren Leistungsfähigkeit oder langen Krankenständen. Obwohl Statistiken das Gegenteil beweisen, halten sich diese Sorgen genauso wie der Mythos, die Mitarbeitenden nicht kündigen zu können. Tatsächlich tritt der besondere Kündigungsschutz für Menschen mit Beeinträchtigung erst nach vier Jahren ein. Fakt ist auch: Bloß 52,8 Prozent der Betroffenen sind in Österreich erwerbstätig. Für den Rest bleibt oft nur ein Platz in einer geschützten Werkstätte, wo sie statt eines Gehalts ein bisschen Taschengeld bekommen – von Versicherungs- oder Pensionsansprüchen ganz zu schweigen.
Eine Greißlerei für alle
Auch die 27-jährige Franziska Sares befand sich in dieser Situation. Zufriedengestellt hat die Arbeit in der Werkstätte weder die junge Frau mit Trisomie 21 noch ihre Mutter Eva: "Franzi kann ein selbstbestimmtes Leben führen, sie findet sich in der Gesellschaft zurecht", ist sie überzeugt. Nur Bewerbungsgespräche oder andere Testsituationen machen ihr zu schaffen: "Dann zeigt sie nicht ihr bestes Ich."
Aufgabe mit Sinn. Dank ihres Jobs im Familienunternehmen konzept : greissler kann Franziska Sares ein selbstbestimmtes Leben führen © Lukas Ilgner
Als die 56-Jährige mit ihrer jüngeren Tochter Josephine 2021 den "konzept : greissler" im dritten Bezirk eröffnete, wollte sie deshalb nicht nur ihre Leidenschaften – "gesunde Nahrungsmittel, kurze Wege, hochwertige Produkte, schönes Design" – zusammenbringen. "Die eigentliche große Motivation ist bis heute, für Franzi einen sinnvollen Arbeitsplatz zu schaffen", sagt Josephine.
»Die eigentliche große Motivation ist bis heute, für Franzi einen sinnvollen Arbeitsplatz zu schaffen.« Josephine Sares, Co-Gründerin konzept : greissler
Jeden Morgen schlichtet Franziska die Getränke, gibt Nachbestellungen durch, putzt die Theke und bereitet als Feinkostchefin Sandwiches vor. Der geregelte Ablauf sei für sie aufgrund ihres Downsyndroms wichtig. "Franzi ist auch ein wichtiges Mitglied des Verkaufsteams", betont Josephine, da im sechsköpfigen Team "alle alles machen": vom Verpacken, Auffüllen der Regale, Zubereiten von Espressi bis zur Kartenzahlung. "Die Barzahlung üben wir noch", spricht die 24-Jährige vom stetigen Lernprozess ihrer Schwester. "Ich sehe die Entwicklung bei Franzi jeden einzelnen Tag", ermutigt Eva andere Unternehmer:innen, Menschen mit Beeinträchtigungen eine Chance zu geben. "Das Wichtigste ist, sich Zeit zum Kennenlernen zu nehmen und geduldig zu sein", rät sie und fügt hinzu: "Respekt und Verständnis sind das A und O. Wir machen keinen Unterschied." Ihre "Greisslerei" möchten sie als Ort für alle verstanden wissen und hoffen, damit eine Brücke zwischen den Menschen zu schlagen. "Allerdings haben Inklusion und Integration auch Grenzen", stellt Eva klar. Man müsse die Nische finden, in der Menschen ihre Stärken ausbauen können – trotz oder gerade wegen ihrer Beeinträchtigung.
90 Prozent der österreichischen Betriebe zahlen lieber eine "Ausgleichstaxe", statt einen Menschen mit Behinderung einzustellen. 1,4 Millionen Menschen leben in Österreich laut Österreichischem Behindertenrat mit einer Beeinträchtigun
Sprachrohr der Gehörlosen
Repetitive Tätigkeiten passen zum Beispiel zu den Qualitäten, die Personen mit Asperger-Syndrom mitbringen. In der Marien Apotheke in Wien überprüfen deshalb zwei Mitarbeiter:innen mit dieser Art von Autismus detailgenau Zahlen und sortieren Tabletten neu. "Für die Beratung hingegen braucht man andere Voraussetzungen", weiß Karin Simonitsch, die das Familiengeschäft in den 1990er-Jahren übernommen hat. In einer hektischen Umgebung konzentriert arbeiten, sich nicht aus der Ruhe bringen lassen und dem Gegenüber Wärme vermitteln, zählt sie ein paar davon auf. Dass gehörlose Menschen diese Begabungen mitbringen, hat die Apothekerin zufällig entdeckt: Um Freunden einen Gefallen zu tun, stellte sie 2007 deren hörbehinderten Sohn als Lehrling ein. Seit Absolvierung seiner Lehrabschlussprüfung ist David Iberer der erste gehörlose pharmazeutisch-kaufmännische Assistent in der Geschichte der österreichischen Pharmazie.
»Gehörlose können nicht immer sinnerfassend lesen. Informationen über Gesundheitsthemen erreichen sie deshalb nicht.« Karin Simonitsch, Eigentümerin der Marien Apotheke
Drei Personen mit Hörbehinderung arbeiten aktuell im "Mariechen", wie die 45-köpfige Belegschaft die Apotheke nennt – darunter auch der erste gehörlose Pharmazeut Europas. Für seine Anstellung in der Marien Apotheke musste der Slowene Sreco Dolanc 2013 nicht nur von Ljubljana nach Wien ziehen. Um als vertretungsberechtigter Apotheker anerkannt zu werden, lernte er binnen weniger Monate die österreichische Gebärdensprache. Diese nutzt er seither im Mariechen regelmäßig, hat es sich doch als Anlaufstelle für Menschen mit Hörbeeinträchtigungen etabliert. "Gehörlose können nicht immer sinnerfassend lesen. Informationen über Gesundheitsthemen erreichen sie deshalb nicht", liegt der 60-jährigen Inhaberin das Thema spürbar am Herzen, "sie brauchen ihre Muttersprache – die Gebärdensprache."
Nicht komplizierter, nur anders
Dass in der Schmalzhofgasse selbst die hörenden Mitarbeitenden grundlegende Kenntnisse darin haben, hat sich herumgesprochen. "Ein bis zwei Gehörlose oder Schwerhörige kommen pro Tag in die Apotheke, nicht nur aus Wien", freut sich Simonitsch, "sie nehmen weite Strecken in Kauf, um sich in adäquater Muttersprache über ihre Medikation zu informieren." Letzteres können sie auch über Videos auf der Homepage der Apotheke, in denen Dolanc in Gebärdensprache Gesundheitsthemen behandelt.
Muttersprache. In der Marien Apotheke in Wien kann ein gehörloser Apotheker mithilfe einer Gebärdensprachen-Dolmetscherin auch hörende Kund:innen adäquat beraten © Markus Zahradnik
Damit er die hörende Kundschaft ebenfalls adäquat beraten kann, steht dem Slowenen eine Gebärdensprachen-Dolmetscherin zur Seite. "Nur Nachtdienste sind für einen Gehörlosen nicht machbar, weil er nicht telefonieren kann", erklärt Simonitisch. Komplizierter sei das Arbeiten mit ihren nicht hörenden Mitarbeitenden keineswegs, betont sie: "Es ist nur anders!" –
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