Vor kurzem fand ein umfangreiches und innovatives Editionsprojekt an der Österreichischen Nationalbibliothek seinen vorläufigen Abschluss: 21 Notizbücher des österreichischen Nobelpreisträgers, mit knapp 3.000 Seiten an Aufzeichnungen, sind vollständig editiert als Faksimiles mit kommentierten Transkriptionen und drei Registern online frei zugänglich. Die Edition öffnet der Handke-Forschung, aber auch einem breiten Publikum völlig neue Perspektiven.
Die betreffenden Notizbücher stammen aus dem Zeitraum zwischen März 1976 und November 1979 und werden mit der Edition erstmals veröffentlicht. Die Handschrift Handkes wurde dabei vollständig transkribiert und nach den Standards der digitalen Geisteswissenschaften erschlossen: Umfangreiche Register erlauben es, über erwähnte Orte, Werke oder Personen in dieses vielschichtige Werk einzutauchen. Notizbuchbeschreibungen geben Einblicke in die inhaltlichen und materiellen Besonderheiten jedes Notizbuchs und bieten thematische Einstiege. Stellenkommentare schlüsseln die zahlreichen Lektürezitate, Bildbeschreibungen bei Museumsbesuchen oder fremdsprachigen Stellen auf und geben wichtige, akribisch recherchierte Hintergrundinformationen.
Zeichnung Peter Handkes in einem seiner Notizbücher aus dem Jahr 1976 ©Österreichische Nationalbibliothek
Peter Handke begann Mitte der 1970er Jahre mit der Praxis, Notizbücher für die Aufzeichnung spontaner Bewusstseinseindrücke zu nutzen. In seiner Jacken- oder Hosentasche trug er die handlichen Hefte ständig mit sich und füllte so tausende Seiten. Er notierte Gesehenes, Gelesenes und Gehörtes, aber auch Reflexionen, Träume und Pläne für literarische Projekte. Die Dichte und Verschiedenartigkeit der Notizen sowie die Gestaltung mit bunten Stiften und Zeichnungen machen sie zu Kunstwerken von eigenem Rang. Viele Einträge entstanden unterwegs, auf einer der vielen Reisen, die den Autor in seine Herkunftsgegend nach Kärnten, in den slowenischen Karst, aber auch in viele andere Weltgegenden führten. Lange Strecken legte er zu Fuß zurück; Gehen und Schreiben sind hier eng verwandte Tätigkeiten der poetischen Weltaneignung.
Zwischen 1971 und 1990 sind 75 Notizbücher mit ca. 11.000 Seiten entstanden. 21 davon wurden zwischen Februar 2021 und Juni 2024 im Rahmen eines internationalen Forschungsprojekts ediert. Ein interdisziplinäres Team erarbeitete die Edition an der Österreichischen Nationalbibliothek (Literaturarchiv / Abteilung Forschung und Datenservices) sowie am Deutschen Literaturarchiv Marbach. Gefördert wurde das Kooperationsprojekt vom Österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF) und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG).
Polaroid-Selbstporträt des Autors in Alaska, 1977 ©Österreichische Nationalbibliothek
Die Erstveröffentlichung dieser Notizbücher ist Voraussetzung für die konsequente Interpretation von Handkes Werk. Sie ermöglicht neue Fragestellungen und Erkenntnisse zur Poetik, zur Intertextualität oder zur spezifischen Arbeitsweise und Werkentstehung. In seinen Notizen entwickelt und erprobt Handke neue ästhetische Verfahren: Nach den sprachkritischen und experimentellen frühen Texten wendet er sich nun einem "erzählenden Beschreiben" zu. Abzulesen ist dies an der zu großen Teilen in Alaska spielenden Erzählung "Langsame Heimkehr" von 1979 oder dem Slowenien-Buch "Die Wiederholung" von 1986. Die Entstehung dieser und anderer Werke ist in den digital edierten Notizbüchern nachvollziehbar. Zusammen mit den umfangreichen Werk-Materialien, die sich am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek befinden, eröffnen die Notizbücher Zugänge zur Erforschung einer wichtigen Phase im Gesamtwerk des Autors.
Neben der wissenschaftlichen Nutzung bietet die digitale Edition auch einem breiten Publikum, etwa an Schulen, neue Methoden der (digitalen) Literaturvermittlung und einen innovativen Einstieg in das Werk des Nobelpreisträgers.
Die Edition weiterer Notizbücher ist im Rahmen von Folgeprojekten geplant.
Zur neuen digitalen Edition: www.edition.onb.ac.at