Wenn Technik in Autos überfordert, statt zu helfen

| Redaktion 
| 08.08.2023

Die fortschreitende Digitalisierung hat längst auch die Cockpits in Fahrzeugen erreicht, was sich laut einem Bedienungstest aber nicht unbedingt positiv auswirkt - im Gegenteil.

In den letzten Jahren hat sich die Anzahl an Funktionen, die sich in Fahrzeugen über Touchscreens bedienen lassen, mit der fortschreitenden Entwicklung immer weiter erhöht. Wo noch vor wenigen Jahren physische (Dreh-)Schalter und Knöpfe mit haptischem Feedback zur Interaktion zwischen Fahrer:in und Fahrzeug dienten, überwiegen in modernen Fahrzeugen berührungsempfindliche Displays und berührungssensitive Schaltflächen. Neben den klassischen Funktionen wie der Bedienung des Navis oder der Mediennutzung sind mittlerweile bei einigen Herstellern auch Bedienelemente wie etwa die Klimaanlage, das Handschuhfach oder sogar der Scheibenwischer über Touchscreens zu betätigen.

Erhöhtes Risiko im Straßenverkehr

Passend dazu hat die DEKRA für ihren Verkehrssicherheitsreport 2023 "Technik und Mensch", der zahlreiche Problemfelder im Bereich der Mensch-Maschine-Schnittstelle näher beleuchtet, unter anderem eine Probandenstudie in unterschiedlichen Cockpits durchgeführt. Die entscheidende Frage in diesem Zusammenhang lautet für die Expertenorganisation: Führt diese Entwicklung aufgrund von Ablenkung möglicherweise zu einem erhöhten Risiko im Straßenverkehr? "Diese Gefahr besteht durchaus", warnt DEKRA Verkehrspsychologe Thomas Wagner.

"Grundsätzlich reduzieren innovative Touchscreen-Technologien mit intelligenter Benutzerführung die Zahl fehlerhafter Eingaben und die Eingabezeiten, wodurch gleichzeitig Verkehrssicherheitsrisiken zum Beispiel durch Ablenkung minimiert werden können", sagt Wagner. Doch das sei nur die eine Seite der Medaille. Denn aufgrund des fehlenden haptischen Feedbacks bei Touchscreens in modernen Fahrzeugen kann sich die Ablenkungszeit vergrößern, weil meist eine längere Blickzuwendung notwendig sei. Ein weiteres Problem sieht der Verkehrspsychologe darin, dass jeder Hersteller für sich selbst definiert, wie eine intuitive Benutzerführung bei der Fahrzeugbedienung via Touchscreen aussieht. Daher gebe es erhebliche Unterschiede bezüglich Menüführung und Benennung. "Werden Fahrzeuge unterschiedlicher Hersteller gefahren, wie etwa bei der Nutzung von Mietwagen oder beim Carsharing, sind Probleme vorprogrammiert", so der Experte.

Probandenstudie deckt Schwachstellen auf

Um aufzuzeigen, welche Herausforderungen moderne Bedienkonzepte in heutigen Fahrzeugen tatsächlich mit sich bringen, hat die DEKRA Unfallforschung in einem Test 80 Personen vor sicherheitsrelevante Bedienaufgaben in zwei Versuchsfahrzeugen gestellt. Exemplarisch wurden hierfür zwei Generationen des VW Golf, der in Österreich über vier Jahrzehnte die Verkaufscharts anführte, getestet. So war sichergestellt, dass die Probanden nicht mit zwei vollkommen unterschiedlichen Bedienphilosophien konfrontiert werden. Die beiden Versuchsfahrzeuge hatten einen Altersunterschied von zehn Jahren (Baujahre 2012 und 2022). Die Versuche wurden im Stand bei eingeschalteter Zündung durchgeführt.

Zu meistern waren Aufgaben wie beispielsweise das Einschalten des Scheibenwischers, der Frontscheibenbelüftung, des Radios, der Heckscheibenheizung, des Abblendlichts oder der Nebelscheinwerfer. Dabei habe sich gezeigt, dass die Proband:innen im neueren Fahrzeug für alle gestellten Aufgaben im Durchschnitt deutlich mehr Zeit benötigten – teilweise sogar mehr als doppelt so lange. Konnte die jeweilige Bedienaufgabe nicht innerhalb von 30 Sekunden gelöst werden, erfolgte der Abbruch des Versuchs. Dies war laut der DEKRA bei deutlich mehr Testpersonen im neueren Fahrzeug der Fall.

VW Golf TouchIn vielen Fahrzeugen - wie hier im VW Golf 8 - findet sich der Schalter für die Warnblinkanlage mittig im Cockpit – jedoch nicht einheitlich bei allen. Eine Standardisierung bestimmter sicherheitsrelevanter Bedienfunktionen sei laut DEKRA unerlässlich © DEKRA

Forderung hinsichtlich sicherheitsrelevanter Funktionen

Insgesamt sei die Mehrheit der Proband:innen vom Bedienkonzept des neueren Versuchsfahrzeugs verwirrt gewesen, so die Expert:innen. Beklagt wurden die Reaktionszeit des Touchdisplays und der berührungssensitiven Schaltflächen ebenso wie das fehlende haptische Feedback insbesondere der sensitiven Schaltflächen. Der Lernaufwand, den die neuen Bedienkonzepte von den Fahrer:innen verlangen, wird von den Testpersonen als recht hoch eingeschätzt – insbesondere für ältere Menschen. Speziell für Menschen, die eine Lesebrille tragen, könne das moderne Bedienkonzept auch ein sicherheitsrelevantes Problem darstellen. Denn ohne diese Brille erkennen sie die Bedienelemente nicht, mit dieser Brille können sie aber dem Verkehrsgeschehen nicht mehr folgen, weil sie auf größere Entfernungen praktisch nichts mehr sehen.

Nach Ansicht von Thomas Wagner stehen die Fahrzeughersteller und Entwickler:innen vor einer großen Herausforderung: "Auf der einen Seite soll die Bedienung so intuitiv wie möglich sein, gleichzeitig müssen immer mehr Funktionen und Einstellmöglichkeiten im Bedienkonzept Platz finden." Dringend erforderlich sei deshalb die herstellerunabhängige Standardisierung vor allem sicherheitsrelevanter Funktionen bezüglich der Anordnung, des Anbringungsorts und der Handhabung der jeweiligen Elemente im Fahrzeug-Cockpit.

"Diese Funktionen müssen einfach mittels herkömmlicher Bedienelemente mit haptischem Feedback einstellbar sein – auch im Hinblick auf einen möglichen Ausfall eines Touchscreens", fordert der Verkehrspsychologe.

Experte bringt Gütesiegel ins Spiel

Für überlegenswert erachtet der DEKRA Experte darüber hinaus eine Art "Gütesiegel" für ablenkungsarme Gestaltungslösungen auf der Basis von Grenzwerten, die aus einem Bewertungsschema mit entsprechenden Prüfpunkten abgeleitet werden könnten. In diesem Zusammenhang bietet seiner Meinung nach auch die Weiterentwicklung sprachgesteuerter Funktionen als ein Beispiel für ablenkungsarme Gestaltungslösungen noch viel Potenzial, so Wagner abschließend.

www.dekra-roadsafety.com

Kommentar schreiben

* Pflichtfelder.

leadersnet.TV