Wann haben Sie, geneigte Leser:innen, das letzte Mal jemandem oder etwas einfach eine Chance gegeben? Für meinen Teil bemerke ich zunehmend, wie sehr wir uns von vorgefassten Meinungen leiten lassen, oft auf der Grundlage unzureichender oder falscher Informationen. "Das hat ohnehin keinen Sinn", "das ist zwecklos" – solche Überzeugungen sind allzu schnell gefasst. Doch ist dies nicht eine Art von Verzweiflung und vielleicht Ausdruck eines schwindenden Vertrauens in Menschen oder Ideen?
Eine Chance geben
Auch ich habe mich kürzlich wieder ertappt – im politischen Kontext. Eine "Zuckerlkoalition" in Österreich, bestehend aus ÖVP, SPÖ und NEOS, erschien mir auf den ersten Blick als aussichtslos. Das kann nicht funktionieren, so dachte ich, denn es gibt keine Kompromissmöglichkeiten. Die SPÖ wird mit ihren Vorstellungen (die meines Erachtens auch solche bleiben müssen!) das Land nicht voranbringen können. Doch anstatt mich wutentbrannt und kopfschüttelnd abzuwenden, beschloss ich, zumindest den Verhandlungen eine Chance zu geben – wenigstens eine kurze – bevor ich es aburteile.
Natürlich ist es nicht leicht, besonders großen Vorhaben – wie es etwa die Zukunft eines Landes ist – eine faire Chance einzuräumen. Vielleicht sollten wir jedoch bei kleineren Dingen beginnen und lernen, erneut Vertrauen zu fassen. Sicherlich kann es auch da zu Enttäuschungen kommen. So erging es mir beispielsweise bei der Bestellung des Nationalratspräsidenten in Österreich. Die stärkste Partei hat traditionell das Recht, diesen Posten zu beanspruchen, und ich war der Meinung, dass auch Walter Rosenkranz von der FPÖ diese Chance verdient hatte. Nicht zuletzt, nachdem er sehr eindringlich seine pro-europäische Position und sein Stehen zu Israel und dem Judentum bekannt hat, ganz abgesehen von seiner Erfahrung als Klubobmann, Volksanwalt oder Rechtsanwalt. Doch die Enttäuschung folgte leider schnell: Ob es als Missgeschick oder Provokation seinerseits zu werten ist, als ersten Gast ausgerechnet einen ganz und gar nicht EU-freundlichen Ministerpräsidenten zu empfangen oder als Erstes einem ehemaligen Identitären ein Interview zu geben, sei dahingestellt. Ein unglücklicher Start jedenfalls, der die Hoffnung auf viele weitere Chancen eher trübt.
Raum für Entwicklungen
Vielleicht aber zuerst zurück zu den Basics: Das Wort "Chance" selbst lädt uns ein, darüber nachzudenken, was es heißt, Gelegenheiten zu schaffen und zu nutzen. Man kann Chancen ergreifen, aber auch verpassen, vertun oder verspielen. Es gibt keine starren Regeln dafür, das Ergreifen braucht manchmal Mut, weil man nicht sicher sein kann, ob das Unterfangen von Erfolg gekrönt wird oder nicht – und vielleicht sollten wir uns deshalb auch nicht so sehr versteifen. Chancen sind oft ein Zusammenspiel von Timing, Engagement und Flexibilität, das dann aber auch Raum für Entwicklungen lässt.
Gesunde Fehlerkultur
Und doch: Sollten wir auch in Fällen wie dem oben beschriebenen eine zweite Chance gewähren? Warum insistiere ich darauf, dass wir in allen Lebensbereichen Chancen geben sollten? Weil wir – persönlich, politisch und wirtschaftlich – nur dann wachsen können, wenn wir Risiken eingehen. Risiko aber bedeutet, Fehler zuzulassen und diese auch verzeihen zu können. Fehler sind dabei natürlich nicht das eigentliche Ziel, und im besten Falle sollten sie nicht mehrfach passieren. Doch eine gesunde Fehlerkultur ermöglicht, dass wir aus Missgriffen lernen und dem, was gescheitert ist, eine weitere Chance einräumen.
Ein Blick in die USA führt uns ein Extrembeispiel vor Augen: Hier gehört das Scheitern schon fast zum Alltag. In Deutschland, Österreich und der EU sind wir dort bei weitem nicht angelangt und sollten in dieser Hinsicht sicherlich offener werden. In persönlichen Beziehungen scheint dies besonders heikel, auf dieses Glatteis möchte ich mich daher nur ungern begeben – vielleicht nur mit dieser einen Bemerkung dazu: Beziehungen scheitern oft zu schnell, weil man nicht bereit ist, an ihnen zu arbeiten – ihnen eine zweite Chance zu geben. Zu verlockend scheint es, es in der nächsten Beziehung, die vermeintlich nur einen "Wisch" entfernt ist, einfacher oder besser zu haben.
Kehren wir jedoch zurück zu den politischen und wirtschaftlichen Punkten. Wenn wir akzeptieren, dass wir in Zukunft schneller und risikofreudiger agieren müssen, bedarf es einer anderen Fehlerkultur und damit der Bereitschaft, Chancen zu gewähren.
Nach Chancen klare Konsequenzen ziehen
In diesem Sinne möchte ich dazu aufrufen, positiver zu denken und bereit zu sein, Menschen und Projekten mehr Chancen einzuräumen. Vielleicht nicht immer, aber vielleicht auch nicht nur einmal. Nach jeder Chance sollten wir dennoch klare Konsequenzen ziehen, denn dies braucht es, damit Fortschritt möglich bleibt.
Bei JTI Austria hat sich, so möchte ich behaupten, eine sehr kultivierte, gute und vor allem praktikable Fehlerkultur etabliert. Dies aber nicht von heute auf morgen, sondern durch einen längerfristigen Prozess, der auch von Rückschlägen gekennzeichnet war. Aber mit dem erwünschten Sollzustand vor Augen fällt es gar nicht so schwer, dem Konzept eine um die andere Chance zu geben, und zwar nach wie vor und jeden Tag. Und wenn man es einmal verinnerlicht hat, fällt es auch einfacher, das Chancen geben und annehmen auf andere Bereiche des Lebens anzuwenden – genau das sollte unser aller Ziel sein.
www.jti.com
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