LEADERSNET: Sehr geehrte Frau Höllinger, was macht eigentlich Austrian Standards?
Valerie Höllinger: Austrian Standards versteht sich als Teil des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Systems. Wir sorgen dafür, dass Standards aus der Praxis für die Praxis gemacht werden und eins zum anderen passt. Wir stehen für impactstarke Innovation und unsere Aufgabe ist es, Lösungen für Probleme in Form von Standards zu entwickeln. Dafür bringen wir Expert:innen an einen Tisch – das sind Fachleute aus Forschung, Wirtschaft, Politik, NGOs und der Verwaltung. Wie Sie sehen: seit über hundert Jahren setzen wir auf Schwarmintelligenz, lange bevor dieser Begriff allgemein bekannt war. Unsere einzigartige Arbeitsweise ist auch unsere Stärke. Sie ist von der Grundüberzeugung getragen, dass man gemeinsam zu den besten Lösungen kommt.
In den letzten Jahren haben wir uns noch stärker international ausgerichtet und unsere Rolle in europäischen und globalen Standardisierungsgremien erheblich ausgebaut. Das ist wichtig, denn heutzutage kommen rund 94 Prozent der Standards in Österreich aus internationalen Quellen. Und aufgrund unseres Engagements sorgen österreichische Fachleute dafür, dass Österreichs Stimme auf dem internationalen Parkett gehört wird.
Wir tragen außerdem der Tatsache Rechnung, dass wir in einer Wissensgesellschaft leben. Das Wissen wird immer mehr und immer komplexer – für Unternehmen ist es wichtig, hier den Durchblick zu behalten. Daher entwickeln wir auch kundenorientierte Produkte und Dienstleistungen für unsere Kund:innen. Unser Portfolio reicht von Fachbüchern über Lehrgänge und Zertifizierungen bis zu Online-Tools zum Standards-Management.
LEADERSNET: Wir durften heuer über den zehnten Living Standards Award berichten. Besonders die Newcomer-Dichte ist dabei sehr hoch. Welche Rolle spielen Standards für Start-ups?
Höllinger: Standards spielen gerade für Start-ups im Forschungs- und Technologiebereich eine ganz entscheidende Rolle. Mit unseren Standards helfen wir Start-ups aus Österreich, den Sprung zum Scale-up zu schaffen.
Fast alle Einreichungen zum Living Standards Award haben uns durch frische und originelle Ideen überrascht. Es hat sich wieder einmal gezeigt, dass Österreich ein innovativer und exportorientierter Standort ist und sich als Sprungbrett für globale Produkt-Launches eignet.
Für junge Innovator:innen ist es enorm wichtig, die Spielregeln der Märkte zu kennen, in denen sie verkaufen oder produzieren wollen. Mein Tipp: "Kenne die Gesetze und Standards all jener Märkte" – das sollte sich jede Gründer:innen groß an den Kühlschrank pinnen. Die Anwendung internationaler Standards kann den globalen Markteintritt enorm beschleunigen und Innovationen "Made in Austria" weltweit erfolgreich machen. So vermeidet man auch, dass man Entwicklungen verfehlt oder wieder von vorn anfangen muss.
Ein herausragendes Beispiel der letzten Jahre ist das Unternehmen Viewpointsystem. Das Unternehmen entwickelt Smart Glasses-Technologie, die von Anfang an auf die sicherheitsrelevanten Standards für Augenschutz und photobiologische Sicherheit abgestimmt war. Dadurch war die Innovation nicht nur sicher, sondern auch perfekt vorbereitet für den globalen Markteintritt.
Ein anderer unserer Award-Gewinner hat es gut auf den Punkt gebracht: "Die Industrie kauft und produziert nach Standards." Das zeigt, wie unverzichtbar Standards sind, damit Innovationen wirklich Fuß fassen können.
LEADERSNET: Von wie vielen Standards sprechen wir eigentlich?
Höllinger: Wir sprechen hier von rund 25.000 (Stand 2023) nationalen, europäischen und internationalen Standards sowie normähnlichen Dokumenten in unserem Portfolio. Das hört sich aufs Erste nach viel an, doch man darf nicht vergessen, dass es sehr viele Bereiche gibt – von A bis Z: von Abfallwirtschaft bis Zahnmedizin.
Einerseits reduzieren Europäische Normen (Abkürzung EN) die Zahl, da sie die unterschiedlichen nationalen Standards ersetzen – für den europäischen Binnenmarkt ist es wichtig, dass "One standard, one test – accepted everywhere" gilt.
Andererseits werden neue Technologien entwickelt und deshalb kommen wieder Standards hinzu. Die Standardisierung ist ja ein Selbstverwaltungsinstrument von Wirtschaft und Gesellschaft, daher kann man davon ausgehen, dass ein Bedarf danach besteht.
LEADERSNET: Kann man mit Standards gesellschaftspolitischen Einfluss nehmen?
Höllinger: Ja, durchaus. Ich schicke voraus, dass die Politik die gesetzlichen Rahmenbedingungen festlegt und in den Standards steht dann, wie die Anforderungen umgesetzt werden können. Zur Erläuterung ein Beispiel: Brandschutz in Gebäuden ist eine gesetzliche Vorgabe, wie die Brandschutztür aussieht, sagt der Standard. Oder der Green Deal der EU: Wir wollen nachhaltige Ziele erreichen, und die Standards erläutern im Detail, wie das umgesetzt werden kann.
Ein anderes Beispiel auf globaler Ebene ist China. Dort steht die Standardisierung im Regierungsprogramm und wird entsprechend gefördert – von eigenen Ausbildungsstätten mit bezahlten Studienplätzen bis hin zur gesteuerten Teilnahme an internationalen Gremien. Hier hat Europa Nachholbedarf, da bei uns die Standardisierung als selbstgesteuerter Bottom-up-Prozess verstanden wird.
Es wäre wichtig, wenn sich in den Chefetagen die Erkenntnis durchsetzt, dass sowohl die Mitarbeit in den Komitees als auch die Anwendung von Standards einen wirtschaftlichen Vorteil bietet. Rückenwind gibt es von der Europäischen Kommission, die 2022 die europäische Standardisierungsstrategie veröffentlicht hat. Diese soll die Standardisierung in strategischen Bereichen stärken – das betrifft etwa Recycling kritischer Rohstoffe oder die Wertschöpfungskette für sauberen Wasserstoff.
LEADERSNET: Dürfen wir uns in Anbetracht der angespannten wirtschaftlichen Zeiten auf die Zukunft freuen oder müssen wir diese mit großem Respekt erwarten?
Höllinger: Ich denke, es ist beides wichtig: Wir sollten uns auf die Zukunft freuen, aber das Ganze auch mit dem nötigen Respekt angehen. Ich bin eine optimistische Chancendenkerin und plädiere immer dafür, Herausforderungen anzunehmen und die Zukunft aktiv zu gestalten und nicht darauf zu warten, ob es jemand anderer tut.
Standards sind dafür ein gutes Instrument. Gerade in wirtschaftlich unsicheren Zeiten bieten sie Orientierung und Anleitung. Sie sind wie ein unsichtbares Koordinatensystem, das für Qualität, Vertrauen und Fairness sorgt. Ob bei der digitalen Transformation, der Energiewende oder neuen Technologien – Standards helfen dabei, diese Veränderungen zu verankern und Innovationen schneller skalierbar zu machen.
In der Standardisierungswelt gibt es eigene Personen, die sich mit Zukunftsforschung – sogenannter Foresight Research – beschäftigen. Warum das wichtig ist? Weil es manchmal Jahre dauert, bis eine Expertise zu einem Thema aufgebaut ist, die in einem Gremium eingebracht werden kann. Nach aktuellen Bevölkerungs-Prognosen wird es in Europa in den nächsten Jahrzehnten nicht ausreichend Nachwuchs von Expert:innen geben. Ein Punkt aus der vorher genannten Standardisierungsstrategie ist etwa, Wissen rund um Standards stärker in der Bildung zu verankern.
An dieser Stelle lade ich auch herzlich ein, Standards und unser House of Standards und Innovation in der Heinestraße näher kennenzulernen. Unsere Türen stehen allen offen.
Um diese Entwicklung weiter zu fördern, haben wir einen Ausschuss für Forschung, Innovation und Standardisierung gegründet. Dieser unterstützt die Positionierung von Standards in der Forschung. Letztes Jahr waren wir Teil von 15 europäischen Forschungs- und Innovationsprojekten, die sich mit Themen wie Cybersicherheit, Energieeffizienz von Gebäuden und Kreislaufwirtschaft im Bauwesen beschäftigt haben.
Standards basieren auf Konsens – und das ist für mich ein starkes Leitbild für eine Zukunft, das positive Akzente setzt, auch in wirtschaftlich angespannten Zeiten.
www.austrian-standards.at
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