Interview mit Milan Vidovic
"Werbetreibende sollten sich trotz allem vorbereiten und offen für neue Lösungen sein"

| Redaktion 
| 29.07.2024

Im LEADERSNET-Interview spricht Milan Vidovic, Senior Director Data&Tech Consulting bei GroupM, über den von Google abgesagten Wegfall von Third-Party Cookies, wie Werbetreibende darauf reagieren sollten und welche Rolle KI dabei spielt.

LEADERSNET: Sehr geehrter Herr Vidovic, Google hat nun angekündigt, die Third-Party Cookies im Chrome-Browser doch nicht ganz abzuschaffen, sondern Nutzer:innen die Wahlmöglichkeit geben zu wollen, die Cookies selbst zu aktivieren oder zu deaktivieren. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?

Milan Vidovic: Die erste Ankündigung von Google, Third-Party Cookies aus ihrem Chrome-Browser zu verbannen, gab es vor über vier Jahren. Nach mehreren Verschiebungen der selbst gesetzten Deadline hat Google mit der jüngsten Ankündigung einen Kurswechsel vorgenommen. Dieser könnte aber geringer ausfallen, als es zunächst den Anschein macht. Noch kennen wir keine Details zur angekündigten "User Choice"-Funktionalität, aber es ist zu erwarten, dass diese Steuerungs-möglichkeiten zu einer erheblichen Reduzierung von Third-Party Cookies führen werden. Vergleichbare Maßnahmen hat Apple mit der "App Tracking Transparency"-Funktionalität schon im Jahr 2021 für ihr Betriebssystem iOS eingeführt, dort haben im ersten Jahr etwa 75 Prozent der Nutzer:innen das Tracking abgelehnt. Ähnliches kann auch in Google Chrome passieren, was bedeuten würde, dass Third-Party Cookies zwar nicht ganz abgeschafft werden, aber ihr Einsatz wird trotz allem deutlich eingeschränkt werden.

LEADERSNET: Was bedeutet das nun für Werbetreibende, die sich auf den vermeintlich kompletten Wegfall von Third-Party Cookies vorbereitet haben?

Vidovic: Auch wenn wir möglicherweise nicht vor einer vollständig cookielosen Zukunft in Chrome stehen, werden diese auf jeden Fall auch in diesem Browser weiterhin an Bedeutung einbüßen, in anderen Browsern spielen sie ja heute schon keine Rolle mehr. Werbetreibende sollten sich deshalb trotz allem vorbereiten und offen für neue Lösungen sein. Sie sollten weiterhin ihre eigene Abhängigkeit von Third-Party Cookies prüfen und eine Test-Roadmap für alternative Technologien aufbauen. Das schließt auch Google’s Privacy Sandbox mit ein, denn Google hat angekündigt, diese trotz des Kurswechsels weiterzuentwickeln. Third-Party Cookies werden somit nur eines von vielen relevanten Datensignalen für Werbetreibende sein. Ziel ist deshalb, sich bestmöglich für ein Multi-Signal-Ökosystem aufzustellen und in diesem Zusammenhang auch Einsatzmöglichkeiten von KI besser zu verstehen.

© GroupM

LEADERSNET: Wie kann KI bei der bevorstehenden Reduzierung von Third-Party Cookies helfen?

Vidovic: KI ist im Prinzip der Schlüssel, wenn wir über Ersatztechnologien für die bevorstehende Reduzierung von Third-Party Cookies sprechen. Es ist realistisch, dass diese Reduzierung schon zu Beginn des nächsten Jahres greift. Für Werbetreibende bedeutet das weiterhin, in die Organisation reinzugehen und zu schauen, welche Abteilungen an Bord geholt werden müssen, um das Thema zu besprechen. Das betrifft meistens nicht nur die Marketingabteilung, sondern zum Beispiel auch die IT. Man muss sich genau ansehen, welche Daten man zur Verfügung hat. Andere Datensignale gewinnen wie gesagt an Bedeutung, insbesondere jene, die man selbst besitzt, also die sogenannten First-Party Daten. Das Ganze muss natürlich unter Berücksichtigung von Datenschutz-Aspekten passieren. Und hier kommt jetzt KI ins Spiel.

LEADERSNET: Inwiefern?

Vidovic: Am Markt werden Lösungen mit KI-Komponenten entwickelt, um den einst erwarteten Wegfall und die nun zu erwartende starke Reduzierung der Third-Party Cookies möglichst gut zu kompensieren. Da künftig weniger Fakt-Daten zur Verfügung stehen werden, wird man sich zum Beispiel bei der Conversion-Messung mittels KI erstellten Hochrechnungen möglichst nah an die Wahrheit annähern müssen, um die entstehende Lücke zu füllen. Grundsätzlich wird das ganze Ökosystem viel fragmentierter werden. Es gibt keine Wunderlösung bzgl. der Third-Party Cookies, sondern man ist darauf angewiesen, unterschiedlichste Lösungen zu berücksichtigen. Die enge Zusammenarbeit mit Publishern und Technologieanbietern wird für Werbetreibende essenziell.. Um Erkenntnisse zu den eigenen Kund:innen zu gewinnen, werden Werbetreibende beispielsweise Clean Room-Lösungen nutzen und ihre Daten mit jenen von für sie relevanten Publishern abgleichen. Man muss künftig einfach offen für unterschiedliche technische Lösungen sein. 

LEADERSNET: KI wird nun schon seit mehreren Jahren im Digital Marketing eingesetzt. Wie hat sich der Einsatz von KI in den letzten Jahren verändert und entwickelt?

Vidovic: KI ist schon seit vielen Jahren im digitalen Marketing im Einsatz und auch nicht mehr wegzudenken. Sie beeinflusst so gut wie alle Bereiche. Ein großer Schritt war das Aufkommen von Programmatic Advertising vor mittlerweile etwa 15 Jahren. Dabei geht es um den Ein- und Verkauf von Werbeinventar, wobei KI einerseits für den Gebotsprozess eingesetzt wird, andererseits aber auch im Zusammenhang mit dem zielgerichteten Streuen von Werbung. Hier kommen seit jeher Algorithmen zum Einsatz. Darüber hinaus wird KI aber in vielen weiteren Bereichen eingesetzt, etwa in der Personalisierung von Werbebotschaften oder in der Datenanalyse, wenn beispielsweise eine Gruppe von Nutzer:innen auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede in ihrem Surfverhalten untersucht wird. Ein großes Thema sind auch die Werbemittelinhalte, die bereits in der Vergangenheit mithilfe von KI dynamisch und zielgenau an die Interessen von Nutzer:innen angepasst wurden. Heute werden diese Möglichkeiten mithilfe von generativer KI eben weiterentwickelt.

LEADERSNET: Haben Sie dafür einen konkreten Fall?

Vidovic: Generative KI wird in der Personalisierung der Werbemittelgestaltung immer dominanter. Einerseits können tausende Textvarianten auf Knopfdruck erstellt werden, aber auch im Bereich Bild- und Videogenerierung wird die Technologie immer besser. Dadurch geht man viel zielgerichteter auf die Nutzer:innen ein und schafft Testszenarien, die bis dato unmöglich zu realisieren waren. Nichtsdestotrotz ist die menschliche Komponente weiterhin außerordentlich wichtig, denn neben der maschinellen Optimierung sind für Werbetreibende auch Erkenntnisse aus den Werbemaßnahmen wichtig, und hier ist die menschliche Urteils- und Entscheidungsfindung noch immer unübertroffen.

LEADERSNET: Immer mehr Unternehmen wollen "etwas mit KI" machen. Vielen ist allerdings gar nicht klar, wie man diese genau einsetzen soll. Dafür hat GroupM das Acceleration AI Maturity Modell entwickelt. Was steckt dahinter?

Vidovic: Unser Acceleration AI Maturity Modell ist ein Instrument, um Werbetreibenden zu helfen, ihren aktuellen Einsatz von KI zu durchleuchten und eine Roadmap zu entwickeln. Das dient dafür, den Transformationsprozess, in dem sie sich befinden, voranzutreiben. Dieses KI-Reifegradmodell ist kurz gesagt ein Tool, welches auf über 100 realen Use Cases aufbaut, die wir in der Vergangenheit umgesetzt haben. Es ist in sechs Vektoren unterteilt, begonnen bei der Organisation und bis hin zu den Bereichen Optimierung, Messung, aber auch Content.

Insgesamt gibt es vier Reifegrade. Das Ziel ist natürlich, dass man die Kund:innen immer weiter bis zur höchsten Stufe bringt. Je fortgeschrittener die Kund:innen sind, desto höhere Kosteneinsparungen können sie zum Beispiel generieren, indem sie die richtige Technologie für die Erreichung ihrer Ziele einsetzen.

Das Ganze umfasst 60 Fragen und am Ende erhält man einen Score, der dann schlussendlich die Kund:innen in eine dieser vier Stufen einteilt. Das Gute dabei ist, dass man solche Assessments zu einem späteren Zeitpunkt wiederholen kann, um zu vergleichen, wie sich die Werbetreibenden entwickelt haben. Außerdem umfasst der Score auch einen Vergleich mit anderen Werbetreibenden. Somit kann man sich recht gut selbst verorten. Das ist eine Basis, um Projekte aufzubauen und Werbetreibende weiterzubringen.

LEADERSNET: Sie bieten auch das AI-Bidding-Tool Copilot an. Was kann man sich darunter vorstellen?

Vidovic: Das ist unser Optimierungstool und mittlerweile seit über fünf Jahren bei uns am Markt. Genau das ist auch der große Vorteil von Copilot, weil unsere Algorithmen jahrelang auf österreichische Nutzer:innen trainiert wurden. Im Vergleich zu anderen Märkten ist hier die Datenlage ansonsten eher mau. Im Tool selbst hat man dann die Möglichkeit zwischen unterschiedlichen Standardalgorithmen mit einer Optimierungsmöglichkeit für den Bereich Programmatic Advertising zu wählen. Also man wählt ein KPI-Ziel aus, etwa eine Click Through Rate oder ein Conversion-Ziel und unsere Copilot-Algorithmen legen sich dann über die Algorithmen in den jeweiligen Aktivierungsplattformen drüber. Das Besondere ist aber, dass man in unserem Tool auch individuelle Algorithmen erstellen kann. Da man dafür spezielles Know-how braucht, haben wir unser Data Science Team, das die Algorithmen schreibt. Damit entstehen dann für Kund:innen maßgeschneiderte Optimierungsalgorithmen, die eine Performanceverbesserung von durchschnittlich 20 Prozent bringen.

LEADERSNET: Der Facharbeitermangel ist gegenwärtig ein Riesenthema. Gleichzeitig entwickelt sich die gesamte Thematik rund um KI rasant weiter. Kann man da überhaupt noch genügend Expert:innen "mitproduzieren" oder wird sich das durch KI "von selbst" lösen?

Vidovic: Für den Bereich Digital Marketing gibt es einige spezialisierte Einrichtungen, in denen zukünftiges Personal ausgebildet wird. Das sehen wir auch in unseren Agenturen. Sehr viele meiner Kolleg:innen entstammen eben Talenteschmieden wie diversen österreichischen Fachhochschulen. Da der Bedarf in den letzten Jahren rasant gestiegen ist, sind mittlerweile aber auch einige Expert:innen in der Branche tätig, die ihre Ausbildung nicht in Österreich genossen haben. KI-Lösungen können Prozesse vereinfachen und beschleunigen, auch in meinem Agentur-Netzwerk wenden unsere Mitarbeiter:innen KI im Daily Business an, um beispielsweise repetitive Arbeitsschritte rascher zu erledigen. Das löst aber nicht den Facharbeiter:innenmangel, sondern ändert die Anforderungen an Mitarbeiter:innen. Einerseits muss die KI richtig bedient werden können und andererseits entstehen durch die Zeitersparnis neue Anforderungen, aber auch Möglichkeiten.

www.groupm.com

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