Wie weit darf die Meinungsäußerungs- und Demonstrationsfreiheit gehen

| Redaktion 
| 14.01.2024

Gastkommentar von Ralf-Wolfgang Lothert, Mitglied der Geschäftsleitung und Director Corporate Affairs & Communication von JTI Austria.

Wie Sie, geneigte Leser:innen, aus einigen meiner vorhergehenden Gastkommentaren wissen, ist mir die Demokratie bzw. die Stärkung und der Erhalt selbiger eines der größten Anliegen. Demokratien bestehen im Optimalfall durch ein ausgewogenes Zusammenspiel von Rechten und Pflichten, einen wesentlichen Bestandteil stellen dabei Meinungs- und Demonstrationsfreiheit dar. Diese "unumstößlichen" Rechte werden jedoch immer häufiger missbräuchlich verwendet, weshalb sich die Frage stellt, ob es denn gar keine Limits dafür geben kann.

Was ist legitim und was nicht?

Wie komme ich dazu, dies zu fragen? Vergangene Woche machte der Fall die Runde, dass der deutsche Vizekanzler Robert Habeck nach einem Urlaubsaufenthalt an der Nordseeküste eine Fähre nicht verlassen konnte. Landwirte blockierten nicht nur den Weg von der Fähre, sondern machten sich sogar bereit, die Fähre zu stürmen. Diese musste daraufhin aus Sicherheitsgründen die Landung abbrechen. Sie, liebe Leser:innen, stimmen wohl mit mir überein, dass physische Gewaltanwendung sicherlich kein legitimes oder adäquates Mittel ist, um seine Anliegen durchzusetzen, ebenso wenig wie psychische Gewaltanwendung oder Mobbing. Beim Blick in Richtung "Klimakleber:innen" scheinen sich aber die Geister schon zu scheiden, was legitim ist und was nicht.

Wie sieht es nun aber aus, wenn etwa während Demonstrationen Galgen mit den Gesichtern bekannter Menschen hochgehalten werden, oder wenn gar zur Vernichtung von Völkern und Staaten aufgerufen wird? Ich meine, dass weder persönliche Angriffe noch Beleidigungen, Bedrohungen, Nötigungen oder gar Gewalt – egal in welcher Ausprägung – als legitimes Mittel gelten dürfen. Vielmehr müsste in solchen Fällen sehr sorgsam im Rahmen der Verhältnismäßigkeit geprüft werden, wann die Demonstrationsfreiheit schon von vorneherein eingeschränkt werden darf. Einschränkung bedeutet aber in diesem Fall auch, dass wenn einzelne der genannten Umstände während der Demonstration eintreten, diese aufzulösen ist.

Aber nicht nur aus diesem Grund ist der geschilderte Fall in Deutschland mit Besorgnis zu betrachten, sondern er illustriert auch folgendes: Extreme linke oder rechte Gruppen, aber auch sogenannte "Querdenkergruppen" unterwandern solche Demonstrationen und versuchen, sie für ihre undemokratischen Ziele zu benutzen. Das ist nicht neu, dieses Phänomen war auch schon bei den Corona Demonstrationen in Deutschland und Österreich zu beobachten. Beim zuvor angeführten Fall haben noch dazu die Medien eine unrühmliche Rolle eingenommen, denn die rechten Gruppen, die den Protest der Landwirte unterlaufen hatten, spielten den Vorfall in den sozialen Medien zu einem "Bauernaufstand" hoch. Die Medien in Deutschland und Österreich sind auf diesen Zug aufgesprungen und haben sofort das Wording der rechten Gruppen übernommen. Wirklich demokratische Gruppen haben sich hingegen unmittelbar von dieser Unterwanderung distanziert.

"Streitbare, wehrhafte Demokratie"

Wie aber kann man verhindern, dass sich undemokratische Gruppen demokratischer Mittel bedienen, ja sie missbrauchen, um zu ihrem Ziel zu gelangen? Ich denke, in diesem Fall wäre es hilfreich, sich auf den Grundsatz der "streitbaren, wehrhaften Demokratie" zu stützen. "Streitbare, wehrhafte Demokratie" bedeutet, dass die Demokratie selbst und ihre wichtigsten Elemente nicht zur Diskussion stehen und selbst durch eine noch so große Mehrheit nicht aufgehoben werden können. Was bedeutet es aber nun in diesem Fall? Eine Frage, die nicht einfach zu beantworten ist, fürchte ich. Aber eine, wie ich finde, gute Antwort lieferte der deutsche SPD-Politiker und Bundespräsidentschaftskandidat Carlo Schmid, der zu den Vätern des Grundgesetzes gezählt werden muss. Schon im Jahr 1948 sagte er: "Ich für meinen Teil bin der Meinung, dass es nicht zum Begriff der Demokratie gehört, dass sie selbst die Voraussetzungen für ihre Beseitigung schafft. (...) Man muss auch den Mut zur Intoleranz denen gegenüber aufbringen, die die Demokratie gebrauchen wollen, um sie umzubringen."

Das heißt, in diesem Falle dürften diese extremen Gruppen gar nicht zugelassen bzw. sofort von den Demonstrationen entfernt werden.

Dies zeigt ein weiteres Dilemma, denn es fällt natürlich nicht immer leicht, sich in die Lebensrealität anderer, vor allem andersdenkender Menschen einzufühlen, manchmal ist es sogar unmöglich. Deswegen erscheinen uns die Gründe, wegen derer sie demonstrieren, oftmals fadenscheinig, unrichtig oder schlichtweg idiotisch. Idiotisch allein ist aber nicht undemokratisch und rechtfertigt somit kein Demonstrationsverbot. Das ist die eine Seite, die andere Seite ist die, an der es aber gefährlich für andere Menschen wird. Und wieder müssen die "Klimakleber:innen" herhalten: Die Argumente der einen Seite lauten: "Sie nehmen billigend in Kauf, dass Leben gefährdet werden", etwa durch das Blockieren von Einsatzkräften. Ihr Argument wiederum lautet: "Unser aller Leben sind gefährdet, wenn sich nichts ändert." Welches ist legitimer? Und wie unterscheiden sie sich von einem wild gewordenen Mob, der dem Vizekanzler an den Kragen will?

"Es ist nie zu spät für die Demokratie"

Leider abgedroschener Fakt ist, dass Gewalt immer Gegengewalt erzeugt, und damit will ich persönlich mich nicht abfinden. Zu präsent sind die Bilder anfänglich oder scheinbar friedlicher Demonstrationen im Nahen Osten, die regelmäßig eskalieren und nur noch mehr Tote bringen, aber keinesfalls Lösungen.

Eine generelle Lösung kann ich an dieser Stelle natürlich nicht anbieten, um zu erkennen was demokratisch und was ist undemokratisch ist, aber Ihnen einen Hinweis aus meiner langjährigen Arbeit u. a. in der Kommunikation mitgeben. Wer Botschaften absendet, verfolgt damit eine Agenda. Daher ist es ratsam, sich dieser Agenda bewusst zu sein, um die Botschaft richtig einordnen zu können, anstatt sie einfach mal fröhlich drauf los nachzuplappern. Die sozialen Medien sind der beste Nährboden, um Schwachsinn aller Art zu verbreiten, es gibt dort wenig Korrektiv und innerhalb einzelner Bubbles sowieso nur Zustimmung.

In diesem Sinn lade ich Sie ein, lieber ein zweites Mal darüber nachzudenken und eventuell einmal die Perspektive zu wechseln, bevor Sie Informationen als bare Münze nehmen und sie unreflektiert weiterverbreiten, oder einfach damit argumentieren, dass dies doch unter die Demonstrationsfreiheit fallen würde. Damit lassen sich antidemokratische Tendenzen entlarven und ihre Verbreitung zumindest abschwächen.

Es ist noch nicht zu spät für Neujahrsvorsätze. Und es ist nie zu spät für die Demokratie.

www.jti.com


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