Gastkommentar Ralf-Wolfgang Lothert
Schicksalswahl USA

| Redaktion 
| 29.09.2024

Gastkommentar von Ralf-Wolfgang Lothert, Mitglied der Geschäftsleitung und Director Corporate Affairs & Communication von JTI Austria.

Die "Schicksalswahl" – nein, ich spreche nicht von der gestrigen Nationalratswahl. Sicherlich wird deren Ausgang zu vielen Analysen, Diskussionen und vielleicht auch Irritationen führen. Da ich diesen Gastkommentar jedoch vor dem 29. September geschrieben und eingereicht habe, beziehe ich mich an dieser Stelle auf die Wahl, die in fünf Wochen, am 5. November 2024, in den USA stattfinden wird. Zur Nationalratswahl werde ich sicherlich noch in kommenden Kommentaren Stellung nehmen.

Politisches Schicksal und wirtschaftliche Ausrichtung

Die USA sind mir sehr vertraut. Ein großer Teil meiner Familie lebt dort, und seit meinem 14. Lebensjahr bin ich regelmäßig in den Vereinigten Staaten. Eine Zeit lang habe ich sogar in einer Anwaltskanzlei in Kalifornien gearbeitet. Es steht außer Frage, dass das politische Schicksal und die wirtschaftliche Ausrichtung der USA von immenser Bedeutung für die EU und all ihre Mitgliedsstaaten sind – sei es auf wirtschaftlicher, militärischer oder politischer Ebene. Dies gilt umso mehr in einer Welt, in der sich die klassische bipolare Blockbildung aufzulösen scheint und Staaten vermehrt nach Unabhängigkeit und dem sogenannten "Decoupling" streben.

Spaltung des Landes

Und was passiert in den USA? Seit mehr als fünfzehn Jahren beobachten wir eine zunehmende Spaltung des Landes, die mittlerweile eine beinahe unüberbrückbare Kluft bildet. In den USA hat politische Gewalt eine lange Geschichte, doch scheint sie mittlerweile zur Normalität geworden zu sein. Dies zeigt sich nicht zuletzt an den fast beiläufig aufgenommenen Attentatsversuchen auf den ehemaligen Präsidenten Donald Trump. Im Wahlkampf der Demokraten und Republikaner haben sich die verbalen Gefechte und Anschuldigungen dermaßen verschärft, dass Worte inzwischen zu Waffen geworden sind.

Besonders verstörend ist die Tatsache, dass Trump – der unaufhörlich Hass sät und die demokratischen Institutionen infrage stellt – den Demokraten die Schuld an den Anschlägen auf seine Person gibt. Das ist nur einen Schritt entfernt von den absurden Behauptungen, wonach Immigrant:innen Katzen und Hunde essen würden. Die Perfidität solcher Aussagen ist kaum zu übertreffen.

Diese Polarisierung ist einzigartig. Darüber schwebt nach wie vor die Angst, die der Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 ausgelöst hat, wie eine düstere Wolke über dem Land. Dieser Vorfall, der nicht nur Todesopfer und Verletzte forderte, hinterließ eine Nation, die plötzlich an ihrem Selbstverständnis und ihrem Vertrauen in ihre demokratischen Institutionen zweifelte. Was wird also am 6. November 2024 geschehen – nach der Wahl?

Ich persönlich glaube, dass die amerikanische Nation und ihre Institutionen stärker sind, als viele annehmen, und dass die USA mit jedem Wahlausgang zurechtkommen werden. Zu hoffen bleibt nur, dass wir keine Szenarien wie in dem Film Civil War von Alex Garland erleben. Das setzt natürlich voraus, dass sich die USA wieder berappeln.

In Forschung, Bildung, Industrie und Militär investieren

Häufig werde ich gefragt, welcher Wahlausgang für Europa besser wäre – ein Sieg der Demokraten oder der Republikaner? Als Verfechter der Demokratie und Freund des politischen Diskurses mit "feiner Klinge" neige ich persönlich eher zu den Demokraten (Harris/Walz). Doch bedeutet das automatisch, dass ein Sieg der Demokraten für die EU vorteilhaft wäre? Nein. Unabhängig vom Wahlausgang hat sich die EU in den vergangenen Jahren zu sehr auf die USA verlassen – sei es politisch, wirtschaftlich oder militärisch. Es ist höchste Zeit, dass wir uns stärker um unsere eigenen Angelegenheiten kümmern. Nicht, um uns abzuschotten, sondern um auf Augenhöhe und gemeinsam mit den USA agieren zu können. Dafür müssen wir mehr in Forschung, Bildung, Industrie und Militär investieren. Vielleicht würden uns die Demokraten etwas mehr Zeit einräumen, diese Ziele zu erreichen als die Republikaner – doch erreichen müssen wir sie auf jeden Fall.

Letztlich bleibt mir nur zu hoffen, dass der Wahlausgang in den USA friedlich von allen Parteien und vor allem von den Bürgerinnen und Bürgern akzeptiert wird. Für Europa hoffe ich, dass wir die Signale dieser Wahl verstanden haben und uns schnell und umfassend aus der bestehenden Abhängigkeit emanzipieren, um mit den USA als unserem Freund und als Beschützer der Demokratie auf Augenhöhe zusammenarbeiten zu können.

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