Ein ehemaliger US-Präsident wird zum ersten Mal – wenn auch noch nicht rechtskräftig – strafrechtlich verurteilt. Bei dieser Person überrascht das kaum noch jemanden, doch seine anschließende 40-minütige Hasstirade gegen das US-Rechtssystem, den amtierenden Präsidenten und vieles mehr war dennoch schockierend. Der beinahe unverhohlene Aufruf zur Gewalt erinnerte stark an den Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021. Was ist los in den USA? Warum ist das Land so gespalten wie nie zuvor? Was bedeutet das für uns? Warum erkenne ich dieses Land nicht wieder?
"Persönliche Sichtweise"
Geneigte Leser:innen, lassen Sie mich auch an dieser Stelle wieder von vorn und dieses Mal mit einer sehr persönlichen Sicht auf die Dinge beginnen, die natürlich keineswegs eine wissenschaftliche Analyse darstellt. Seit meinem 12. Lebensjahr bin ich häufig und regelmäßig in den USA, nicht nur, weil der Großteil meiner Familie dort lebte bzw. nach wie vor lebt. Ich habe einen Teil meiner juristischen Ausbildung in einer Kanzlei in Anaheim, Kalifornien, absolviert. Ich erlebte die USA immer als Land der großen Freiheit und Demokratie, ein Land, in dem Scheitern nur der Antrieb für einen Neuanfang ist, als ein Ort, der Schutz und Zuflucht für andere Demokratien und Flüchtlinge bietet. Ich hatte mir sogar vorgestellt, dort für immer zu leben.
Eines der einschneidendsten Erlebnisse, das ich als Mitauslöser der jetzigen Situation sehe, waren die Angriffe am 11. September 2001 auf die Twin Towers in New York. Ich selbst erlebte die Anschläge in der Nähe der Naval Base Coronado in San Diego und "flüchtete" zu meinen Verwandten nach Los Angeles. Eigentlich hätte ich am 13. September 2001 zurück nach Deutschland fliegen sollen, was natürlich nicht möglich war. Ich habe gesehen, wie am Venice Beach plötzlich bewaffnete Nationalgardisten den Strand bewachten. Schon am nächsten Tag wurden T-Shirts mit dem Aufdruck "Kill Osama Bin Laden" verkauft. Seit diesem Zeitpunkt fühlte sich das Land angreifbar und verwundbar und verlor seine "Leichtigkeit". Das führte zu direkten und indirekten Kriegen, zu Guantánamo und zu einer tiefen Angst vor Überfremdung, was insbesondere das Problem an der Grenze zu Mexiko weiter verschärfte.
Die USA waren schon immer ein nach innen gewandtes Land, dessen Bevölkerung sich hauptsächlich um sich selbst kümmert und den Staat möglichst aus ihrem Leben heraushalten will. Die Familie steht an oberster Stelle. Diese Tendenz hat sich seit 9/11 noch verschärft und führt dazu, dass Positionen wie "America First" oder "Make America Great Again" so populär sind. Obwohl alle Parteien in den USA mehr oder weniger diese Haltung teilen, erscheinen die liberaleren Einstellungen der Demokraten vielen Amerikaner:innen bereits als sozialistisch oder kommunistisch. Anders als früher wird diese Spaltung heute so offen ausgetragen, dass sie teilweise an einen Bürgerkrieg erinnert. Mit (unter anderem) dem Ergebnis, dass nun zwei wirklich alte weiße Männer um die Macht kämpfen, ohne dass junges politisches Blut und Hoffnungsträger:innen in Sicht sind.
Wie die tiefe Spaltung überwinden?
Es steht, so meine ich, außer Frage, dass wir die USA wirtschaftlich, politisch und militärisch brauchen. Eine Rückbesinnung der USA nur auf sich selbst und die tiefe innere Spaltung haben bereits jetzt extreme negative weltpolitische Auswirkungen auf uns. Muss man sich deshalb Sorgen machen? Ja, sicher, vor allem mit Blick auf die kommenden Wahlen. Trotzdem bin ich der festen Überzeugung, dass nur ein gefestigter demokratischer Staat wie die USA solche Extreme aushalten und überstehen kann. Zwar ist das Land mit Fehlern belastet, aber am Ende wird doch die Justiz die Dinge regeln. Vor allem glaube ich, dass der enorme Freiheitswille der Amerikaner:innen dazu führen wird, dass sie keinen Tyrannen dulden werden. Spätestens wenn dessen Politik zu wirtschaftlichen Nachteilen führt, wird die amerikanische Bevölkerung ihn abwählen.
Offen bleibt die Frage, wie die USA diese tiefe Spaltung überwinden kann? Wie zuvor erwähnt glaube ich zwar, dass die USA solche Extreme zumindest eine Zeit lang aushalten kann, aber das ist keine mittel- bis langfristige Lösung und wird das Land irgendwann politisch und wirtschaftlich aufzehren. Deshalb mache ich mir Sorgen, denn noch ist niemand in Sicht, der erstens willens und zweitens in der Lage ist, diese Gräben zu schließen.
Stabilität, Sicherheit und Prosperität
In Europa haben wir gerade unsere Stimmzettel in die Urnen geworfen – wie weit wir uns damit vom ursprünglichen Gedanken des geeinten Europas entfernt haben, werden die nächsten Monate zeigen. Für die USA bleibt auch nur zu hoffen, dass sie die Kraft finden, wieder zusammenzurücken und den Geist der Freiheit und der Demokratie neu zu entfachen. Einmal mehr zitiere ich deshalb Winston Churchill: "Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen – abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind." Egal, ob in Europa oder in den USA, es sollte uns allen daran gelegen sein, an dieser Demokratie festzuhalten, weil nur sie am Ende in der Lage sein wird, die Rahmenbedingungen für Stabilität, Sicherheit und Prosperität für die ganze Welt zu schaffen.
Soweit möglich sollten wir deshalb durchaus kritisch und besorgt gegenüber den USA sein, wir müssen auch nicht immer mit allem einverstanden sein, aber die USA waren immer mehr Freund als viele andere Staaten. Freunde halten auch in schlechten Zeiten zusammen, um dann gestärkt aus diesem Tief hervorzukommen. In diesem Sinne hoffentlich auf eine fruchtvolle und gedeihliche transatlantische Freundschaft.
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