Das österreichische Kaffeehaus-Ballett

| Redaktion 
| 15.01.2023

Gastkommentar von Ralf-Wolfgang Lothert, Mitglied der Geschäftsleitung und Director Corporate Affairs & Communication von JTI Austria.

Obwohl ich nun schon fast 10 Jahre auch in Österreich lebe, entdecke ich doch immer wieder Gepflogenheiten bzw. werden mir diese bewusst, weil sie einem nicht unmittelbar ins Auge fallen, aber sie sind da, diese kleinen Rituale, die einem in ganz ähnlicher Form immer und immer wieder begegnen. Ich rede vom Kaffeehaus, unter denen die in Wien befindlichen Exemplare ohnehin einen kultstättenhaften Ruf genießen – und das teilweise sehr zu Recht.

Wertschätzende Behandlung

Geduld – das habe ich an dieser Stelle schon öfters eingeräumt – gehört ja nicht zu meinen allergrößten Stärken. Das ist mit Sicherheit einem gewissen Termindruck geschuldet, doch haben manche Termine den angenehmen Nebeneffekt, in einem Kaffeehaus stattfinden zu können. In deren Atmosphäre spricht oder verhandelt (oder sogar streitet!) es sich einfach entspannter, denn das beginnt schon mit dem Betreten und einer Begrüßung, die manchmal ein wenig aus der Zeit gefallen scheint. Wo sonst werden Sie noch mit "gnädiger Herr", "Herr Doktor" angesprochen oder als "gnä' Frau" tituliert? Es wird in der Tat noch das Augenmerk auf eine wertschätzende Behandlung gelegt, weshalb ich mir solche Kaffeehausbesuche regelmäßig auch ganz ohne Termin und auch ohne Begleitung gönne.

Durch die Begrüßung also in eine angenehme Stimmung katapultiert, geht es zu Schritt zwei über: der Bestellung. Und glauben Sie bitte ja nicht (unbedingt mit Augenzwinkern zu verstehen), dass Sie hier die freie Wahl haben! Seien Sie vielmehr froh darüber, wenn der "Herr Ober" Sie liebevoll in die richtige Richtung lenkt, welche der angebotenen Getränke und Speisen gemeinsam "kombinieren" und welche weniger. Wer einen einfachen Bestellvorgang erwartet, der sei an dieser Stelle bitte vorgewarnt, dass daraus eine handfeste Diskussion, natürlich in Form eines sehr wertschätzenden Dialoges, entstehen kann. Mein deutsches (und wie bereits erwähnt nicht vorrangig geduldiges) Gemüt wurde hier schon des Öfteren auf die Probe gestellt.

Wenn Ihnen jetzt spontan die bekannte Bestell-Szene aus dem Hollywood Blockbuster "Harry & Sally" in den Sinn gekommen ist, muss ich leider sagen: weit gefehlt! Das ist im Vergleich zum Wiener Kaffeehaus bestenfalls Kinderkram... Die viel bessere Anekdote hat der ehemalige Burgschauspieler Joachim Meyerhoff – ebenfalls Deutscher – vor nicht allzu langer Zeit bei einer Lesung im Theater im Park geliefert: Kaffeehaus in der Wiener Innenstadt, Sommer, Mittagszeit. Er bestellt einen Thunfischsalat, dazu ein Cola. Die Reaktion des Obers darauf war ein (mit Sicherheit wertschätzend gemeintes) heftig ausgestoßenes: "Wäh!" Der verdutzte Herr Meyerhoff fragte, was er denn sonst dazu bestellen solle? – "Ein kleines Bier?", so der Vorschlag. – "Zu Mittag?", die Gegenfrage. Ein wohlmeinendes Schulterzucken die Antwort. Was meinen Sie, wie gut das servierte Seiderl kombiniert hat!

Vom Wetter zur Politik

Es sind genau diese Kleinigkeiten, die ich so schätze. Das Gespräch, das Glas Wasser zum Kaffee, manchmal ein Keks oder Schokoladestück, das dazu gelegt wird – dies alles zeugt von einer tiefen Leidenschaft für das Gastgeben. Und nun zum dritten Schritt: Mit dem Kaffee wird dann gerne ein Satz zum aktuellen Wetter serviert, von dem man flugs in eine gemeinsame Schimpftirade auf die Politik verfallen kann, ohne es zu merken. Und genau wie ich es beschrieben habe, Schritt für Schritt, fühlt es sich an wie ein einstudierter Tanz, ein regelrechtes Kaffeehaus-Ballett, bei dem jedem:r Teilehmer:in die Choreografie ganz selbstverständlich klar ist.

Mir persönlich zeigt es, dass ich meine Ungeduld manchmal einfach hintanstellen muss, weil mir sonst solch wunderbare Momente der Wertschätzung, des Sich-Zeit-Nehmens und Genießens einfach verloren gingen. Denken Sie bei Ihrem nächsten Kaffeehausbesuch in Wien bitte unbedingt daran und beobachten Sie es genau, denn von solchen Momenten kann man eigentlich nie genug bekommen.

Und ich glaube der Beobachtung dieses "Tanzes" im Kaffeehaus ist es auch geschuldet, dass meine deutsche Ungeduld auch beruflich etwas gezähmt wurde, wovon hoffentlich meine Kolleg:innen und Mitarbeiter:innen ein Lied singen können. Nur überstrapazieren sollte man die deutsche Ungeduld doch nicht, denn so gut kann der "Tanz" dann gar nicht sein (schmunzel).

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