Man hat den Eindruck, dass mit der Wahl am 9. Juni eine der ersten großen Schlachten "um" Europa geschlagen wurde, allerdings nicht "für" Europa. Das Ergebnis ist ernüchternd, und es ist noch nicht absehbar, was dieses Wahlergebnis bedeuten wird. Was allerdings schon jetzt klar ist: Es wird nicht einfacher werden, eine wirkliche europäische Politik zu betreiben.
Damit ist leider auch vorprogrammiert, dass der Unmut über "Europa" – wer oder was dies auch immer sein mag – weiter zunehmen wird. Obwohl Österreich überproportional von der EU profitiert hat und ohne die EU immer noch in einem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Dämmerschlaf wäre, ist die Zufriedenheit bzw. Zustimmung zur EU mit etwas über 50 Prozent eine der geringsten in der ganzen Union. Trotz aller Fehler – derer es einige gibt – ist die EU ein Erfolgsmodell. Einzelne Länder hätten gegen Staaten wie China, die USA oder Indien keinerlei Chance – die haben wir nur in der geballten Kraft aller EU-Länder gemeinsam.
Entscheidende Schritte
Die nächsten Schritte werden nun entscheidend sein. Wie wird die Kommission gebildet? Welche werden die Hauptthemen der EU-Politik sein? Wie kann man die Bürger:innen wieder für Europa begeistern? Wie können wir die EU wirtschaftlich und vor allem militärisch schützen? Es gibt viele Fragen, die gelöst werden müssen. Werden wir nach der EU-Wahl einen "Spiraleffekt" erleben? Werden also auch in den nationalen Wahlen die extremen und damit populistischen Anti-EU-Kräfte anwachsen, was zu noch mehr Druck auf bzw. gegen die EU führt und dadurch unseren Wohlstand und unsere Sicherheit bedroht?
Was haben die sogenannten Volksparteien falsch gemacht? Zuallererst haben sie nicht auf das Volk gehört. Keines der wichtigen Themen, egal ob Green Deal, Verbrenner-Aus, ökosoziale Reformen, Nannystate oder Bevormundung wurde berücksichtigt, stattdessen in der eigenen Selbstherrlichkeit geschwelgt. "Auf das Volk hören" bedeutet jedoch nicht, so wie es die extremen Parteien praktizieren, einfach populistisch die Themen aufzugreifen. Es hieße vielmehr, die Dinge zu erklären und die Menschen mitzunehmen – das haben die Parteien jedoch verabsäumt. Sie haben außerdem verabsäumt, auch einmal die klare und nackte Wahrheit zu sagen. Wer glaubt denn heute noch, dass alles einfacher wird? Wer glaubt denn heute noch, dass die Renten sicher sind? Das Pensionsalter nicht zu erhöhen, so wie es manche versprechen, ist eben keine Lösung, um die Renten nachhaltig zu sichern.
Eine klare Vision fehlt
Dabei vertragen die Bürger:innen weit mehr, als die meisten Politiker:innen annehmen, dagegen ist es wenig glaubwürdig, die anderen als populistisch zu bezeichnen, ohne selbst die komplizierte Materie ehrlich anzugehen. Ein aktuelles Beispiel in meiner Heimat Deutschland zeigt dies deutlich. Es ist jedem klar, dass wir zur Verteidigung gegen Bedrohungen wie beispielsweise durch Russland investieren müssen und dass auch die Bürger:innen mehr leisten müssen. Man möchte den Bürger:innen jedoch keine Dienst- bzw. Wehrpflicht zumuten, dabei zeigen die neuesten Umfragen, dass eine breite Mehrheit eine solche sogar befürwortet. Hier stürzen wir also in das nächste Chaos.
Was weiterhin fast überall fehlt, ist eine klare Vision. Welche Vision haben wir für uns, unser Land und die Welt? Nur wenn wir eine Vision haben, wohin wir wollen, können wir auch die Schritte – vielleicht auch mühsame und entbehrungsreiche – erklären, die notwendig sind, um dorthin zu gelangen. Wenn ich ein freies, unabhängiges und von Wachstum getragenes Land haben will, wird jedem klar sein, dass es eine Strategie braucht, um dorthin zu gelangen. Dazu müssen wir nicht nur selbst beitragen, sondern auch von den politisch Verantwortlichen neue Verhaltensregeln einfordern.
Lassen Sie uns also mit folgenden Punkten beginnen, auch wenn sie politisch vielleicht nicht sofort nützlich sind:
- Sagen wir die nackte Wahrheit.
- Spielen wir die Probleme nicht herunter.
- Erklären, erklären und nochmals erklären.
- Seien wir klar in unseren Zielen und Visionen.
- Zeigen wir verständlich auf, wie wir dieses Ziel erreichen können.
- Nur, wenn alle an diesem Ziel arbeiten und partizipieren, sind die Bürger:innen auch zum Verzicht bereit.
Gemeinsam an einem Strang ziehen
Europa steht vor großen Herausforderungen, aber wenn wir gemeinsam an einem Strang ziehen, können wir eine bessere Zukunft gestalten, die vor allem von Einigkeit getragen ist.
Wie so oft verweise ich auf das Unternehmen, welches man als kleinste Form eines Staates bezeichnen kann. Wenn wir eines aus der 240-jährigen Unternehmensgeschichte recht genau wissen, dann dieses: Nimmt man die Mitarbeiter:innen auf der Reise mit und legt die Strategie offen oder erarbeitet diese vielleicht sogar partizipativ, dann sind sie viel eher bereit, diese mitzutragen und so zum Erfolg beizutragen. Das gilt auch für Bürger:innen eines Landes, deren Beitrag es für das Gelingen der Demokratie in einem Land und noch mehr, in einem Zusammenschluss derselben – nämlich Europa – braucht.
www.jti.com
Kommentare auf LEADERSNET geben stets ausschließlich die Meinung des jeweiligen Autors bzw. der jeweiligen Autorin wieder, nicht die der gesamten Redaktion. Im Sinne der Pluralität versuchen wir unterschiedlichen Standpunkten Raum zu geben – nur so kann eine konstruktive Diskussion entstehen. Kommentare können einseitig, polemisch und bissig sein, sie erheben jedoch nicht den Anspruch auf Objektivität.
Entgeltliche Einschaltung
Kommentar schreiben