Wächst wirklich zusammen, was zusammengehört?

Gastkommentar von Ralf-Wolfgang Lothert, Mitglied der Geschäftsleitung und Director Corporate Affairs & Communication von JTI Austria.

Der 3. Oktober ist für Österreich ein Tag wie jeder andere. Für die Deutschen nicht. Der Tag der Deutschen Einheit, der die Teilung meines Heimatlandes friedlich beendet hat, wird Jahr für Jahr mit einem großen Festakt begangen. Nicht einmal ein Jahr ist nach dem Mauerfall am 9. November 1989 bis zur Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 vergangen.

Die Deutsche Demokratische Republik (DDR) stimmt dem Einigungsvertrag zu und aus der Bundesrepublik Deutschland und der DDR wird ein souveränes, freies und geeintes Deutschland. Die Wiedervereinigung wird zum Festtag für Ost und West. Bundespräsident Richard von Weizsäcker ruft zur Solidarität auf – er betont, dass es heiße, teilen zu lernen. „So erleben wir den heutigen Tag als Beschenkte. Die Geschichte hat es diesmal gut mit Deutschland gemeint, umso mehr haben wir Grund zur gewissenhaften Selbstbesinnung", richtet er allen Deutschen damals in seiner Festrede aus.

Einleitung einer neuen politischen Ära

Der 3. Oktober vor 32 Jahren war ein Tag der Freude und des Neuanfangs, aber auch ein Tag des Zweifels und der Skepsis. Doch was ist geblieben, was hat es gebracht? Ich selbst war voller Euphorie! Nicht nur, dass ich am 17 Juni immer in Westberlin auf die Straße gegangen bin, um für die Wiedervereinigung zu demonstrieren. Nein, sofort nach meiner Anwaltszulassung bin ich nach Berlin zur Treuhandanstalt gegangen, um dort als Gruppenleiter/Abteilungsleiter zu arbeiten. Die Treuhandanstalt als die Institution, die nach der Wiedervereinigung die Privatisierung der ehemaligen DDR durchführen sollte. Historisch bedeutsam war der Sitz der Treuhandanstalt im ehemaligen Reichsluftfahrtministeriums Hermann Görings, danach das Haus der Ministerien der DDR und nun als Detlef-Rohwedder-Haus Sitz des Bundesministeriums der Finanzen Deutschlands. Damals gab es noch kein neues Gebäude am Potsdamer Platz und am Prenzlauer Berg nur eine "offizielle Kneipe". Alles war elektrisierend. Darüber aber vielleicht einmal bei einem anderen Gastkommentar mehr. Kurz und gut es prickelte damals überall in Berlin und in Deutschland und wir waren vor Euphorie fast "trunken". Nun aber zurück.
Ein wesentlicher Punkt, bevor ich auf das wirtschaftliche Zahlenspiel eingehe, ist, dass die Wiedervereinigung Deutschlands in Europa eine neue politische Ära eingeläutet und den Demokratisierungsprozess im Osten vorangetrieben hat. Der Fall der Berliner Mauer war der Höhepunkt des Revolutionsjahres 1989. Ohne dieses Ereignis gäbe es kein "freies" Ungarn, Slowakei, Tschechien, Polen....

Dass sich die Geschichte leider wiederholt und die Demokratie sowie die Grundrechte auch in Europa, so wie beispielsweise in Ungarn wieder rigoros beschnitten werden, ist wieder ein anderes Thema.

Aber zurück zu Deutschland. Dass der Preis der Deutschen Einheit hoch war, wissen wir. Er lag bei rund 1,9 Billionen Euro. Doch – und das ist ein relevanter Punkt – ohne die Wiedervereinigung wäre die ehemalige DDR Gefahr gelaufen, wirtschaftlich zu kollabieren, so wie es anderen ehemaligen Ostblockstaaten ergangen ist.

Noch 1990 meinte man, die Privatisierung der ehemaligen Volkseigenen Betriebe (VEBs) würde Milliarden bringen. Man ist damit geendet, dass ein Nebenhaushalt geschaffen wurde und ca. 172 Mrd. Euro an Schulden in einen Erblastentilgungsfonds, allein aus der Treuhandanstalt, aufgegangen sind. Ganz zu schweigen von der "Solidaritätsabgabe", die seit damals – nur mit kurzer Unterbrechung – jede Deutsche/r zahlen musste.

Und was auch nicht außer Acht zu lassen ist, dass auch die 45-jährige Teilung Deutschlands durchaus viel gekostet hat. Nach der Wiedervereinigung konnten Budgetposten wie "Transitpauschale und Visagebühren für den Verkehr durch die DDR" oder auch "Begrüßungsgeld für DDR-Besucher" gestrichen werden. Die Bilanz der Expert:innen: Die Deutsche Einheit hat gesellschaftlich mehr gebracht, als sie wirtschaftlich gekostet hat. Und vor allem relevant, die Wiedervereinigung hat einen wirtschaftlichen Aufschwung erst ermöglicht.

Bitterer Beigeschmack

Wurden bei der Wiedervereinigung Fehler begangen? Ja, natürlich! Aber nicht so viele, wie kolportiert wurden. Mit Hunderten Milliarden Euro und dem Solidaritätsbeitrag wurde der Osten gestützt und aufgebaut.

32 Jahre später hat man das wirtschaftliche Erbe der Deutschen Einheit weitgehend gestemmt, was aber bis heute geblieben ist, ist ein bitterer Beigeschmack, eine Uneinigkeit, wer mehr Dankbarkeit an den Tag legen sollte. Der Osten, weil der Westen eine kostenintensive Aufbauarbeit ermöglicht hat? Oder doch der Westen? Da viele Menschen im ehemaligen Ostdeutschland der Meinung sind, sie allein hätten die Wiedervereinigung und die Demokratie eingeläutet. Daran ist vielleicht einiges richtig, aber auch vieles falsch! Politisch gesehen ist bisher das Zusammenwachsen gescheitert. Erschreckend ist vor allem, dass sich extreme Linke wie auch das rechte Lager vor allem im Osten zeigen. Es lässt einen manchmal verzweifeln wo wir heute – vor allem im Osten – stehen und von der Anfangseuphorie ist auch nicht viel geblieben.

Wir Deutschen feiern den Tag der Deutschen Einheit trotzdem und das zurecht. Aber wo stehen wir? Um mit Angela Merkels Worten zu antworten: Die Wiedervereinigung war alternativlos, die Durchführung befriedigend. Und ja, es wird noch eine Zeitlang dauern, bis wir Deutschen zusammenwachsen. Aber um hier Willi Brandt zu zitieren: "Es wächst zusammen, was zusammengehört". Auch wenn es noch eine weitere Generation dafür benötigen wird.

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