Peter G. Kirchschläger ist Leiter des Instituts für Sozialethik ISE an der Universität Luzern, war zuvor Visiting Fellow an der Yale University, und berät Unternehmen, nationale sowie internationale Organisationen und Institutionen in ethischen Fragen.
LEADERSNET: Nachhaltiger und menschenrechtskonformer Konsum stehen derzeit im Brennpunkt. Was ist unter dem Konzept der "Konsum Actors" zu verstehen?
Kirchschläger: In den Händen von Konsument:innen liegen viel Macht und Einfluss, zu denen auch eine Verantwortung korrespondiert. Jede Kaufentscheidung weist eine ethische und politische Bedeutung auf, da Menschen im Zuge des Konsums auch eine Verantwortungsrelation einkaufen. Diese Verantwortungsrelation verbindet Konsumierende als Verantwortungssubjekt u.a. mit dem Kontext und mit den am Prozess der Produktentstehung, des -vertriebs und des -verkaufs beteiligten Menschen als Verantwortungsobjekt. Das Konzept "KonsumActor" soll unterstreichen, dass Käufer:innen auf eine nachhaltige und menschenrechtskonforme Wertschöpfungskette Einfluss nehmen können und so selbst Akteur:innen sind.
LEADERSNET: Welche Rolle kann der gewöhnliche Konsument spielen, um Ethik und Menschenrechte in der Wirtschaft zur Geltung zu bringen?
Kirchschläger: Als "KonsumActors" bleiben Entscheidungen und Handlungen von Konsument:innen nicht ohne Konsequenzen – im Gegenteil. Durch den Kauf bzw. Nichtkauf können sie insofern auf die Entstehung, den Vertrieb und den Verkauf des Produkts Einfluss nehmen, als sie dazu bejahend Position beziehen und durch den Kauf zustimmen oder aber sich durch einen Nichtkauf davon distanzieren. Diese Distanzierung von einem Produkt kann implizit in Folge eines stillen Kaufverzichts erfolgen, sodass sie für das Unternehmen schwierig bis gar nicht wahrzunehmen ist (außer eine kritische Masse unterlässt auf einmal die Akquisition eines Produkts und wählt ein anderes), oder explizit, d.h. verbunden mit einer Kommunikation des Grundes für den Nichtkauf zuhanden des Unternehmens. Mit ihren Kaufentscheidungen sind KonsumActors – neben Unternehmen und Staaten – mitverantwortlich dafür, dass die Menschenrechte respektiert, geschützt, durchgesetzt und realisiert werden.
LEADERSNET: Auch Data Privacy ist derzeit ein großes Thema. Täglich gibt es Menschenrechtsverletzungen durch Internetkonzerne, wie beispielsweise Facebook, die erst zunehmend wahrgenommen werden. Sollten sich Werbetreibende mehr mit diesem Thema beschäftigen?
Kirchschläger: Aus Sicht der Ethik wäre dies nicht nur zu begrüßen, sondern dringend notwendig. Denn wegschauen und nichts dagegen unternehmen ist bei Menschenrechtsverletzungen keine Option, da Menschenrechte kein Luxus, sondern ein Minimalstandard sind. Dieser Minimalstandard umfasst den Schutz des physischen Überlebens und eines Lebens als Mensch – mit Menschenwürde. Werbetreibende tragen hier – gemeinsam mit anderen Menschen und gemeinsam mit Staaten und Unternehmen – eine Menschenrechtsverantwortung, die auf individueller Ebene mit den eigenen Menschenrechten korrespondiert, die wir für uns ja selbstverständlich in Anspruch nehmen.
LEADERSNET: Ist das ein geeignetes Thema, um gesetzlichen Rahmenbedingungen besser zu entsprechen und einen ethisch korrekten Umgang mit den Daten von User:innen zu lernen?
Kirchschläger: Auf jeden Fall! Ich würde dazu einladen, menschenrechtsbasierte digitale Transformation sowie menschenrechtsbasierte datenbasierte Systeme DS voranzutreiben und so die Daten von User:innen ethisch korrekt zu nutzen. Es ist möglich, die Menschenrechte zu respektieren und gleichzeitig innovativ und wirtschaftlich erfolgreich zu sein. Ganz konkret kann es hilfreich, effizient und effektiv sein, die Ethik von Anfang an und während eines gesamten Innovationsprozesses als Gesprächspartnerin am Tisch zu haben, um so von der Interaktion mit der Ethik zu profitieren. So kann auch vermieden werden, dass etwas ethisch Problematisches entwickelt wird und man erst nachträglich in die Wand ethischer und rechtlicher Probleme fährt.
LEADERSNET: Wo kann man sich über einen ethisch korrekten Umgang mit Daten im Internet informieren?
Kirchschläger: Als Grundsatz kann diesbezüglich dienen: Die rechtlichen und ethischen Standards, die in der Realität gelten, gelten auch im Internet und sollen dort auch geachtet und durchgesetzt werden. Ausführlichere Informationen lassen sich im Buch von Shoshana Zuboff, The Age of Surveillance Capitalism. The Fight for a Human Future at the New Frontier of Power (PublicAffairs 2019) und – erlauben Sie mir diesen Hinweis – in meinem neuesten Buch «Digital Transformation and Ethics. Ethical Considerations on the Robotization and Automation of Society and the Economy and the Use of Artificial Intelligence" (Nomos-Verlag 2021) finden.
LEADERSNET: Ist zweckgebundene Datenverwendung ein möglicher Lösungsansatz für die auftretenden Probleme?
Kirchschläger: In der Tat wäre zweckgebundene Datenverwendung ein möglicher Lösungsweg, um Datenverwendung unter Achtung des Rechts auf Privatsphäre und Datenschutz ethisch akzeptabel zu gestalten. Der Ansatz geht vom Recht auf Privatsphäre und Datenschutz als Voraussetzung aus. Gleichzeitig ermöglicht er die menschenrechtsbasierte intensive Nutzung von Daten. Um diesen Ansatz in seiner Realisierbarkeit zu veranschaulichen, dient folgende Analogie: Wenn man zu Ärzt:innen geht, gibt man auch die "persönlichen Daten" an, damit diese wissen, wen sie vor sich haben und teilt ihnen die eigene Krankheit mit, um Heilung zu erfahren, ohne dass Ärzt:innen diese Daten weiterverkaufen dürfen oder man als Patient:in das Angebot unterbreitet bekommt, diese Daten zu verkaufen, um eine bessere medizinische Behandlung zu erhalten. Auch die Ärzt:innen müssen das Patient:innendossier mit der Krankengeschichte streng vertraulich aufbewahren – ausschliesslich zum Zweck einer besseren Behandlung der Patientin bzw. des Patienten. Auch besteht die Möglichkeit der Weitergabe vollkommen anonymisierter Daten zu Forschungszwecken, falls die Patient:innen dieser Weitergabe informiert zustimmen.
LEADERSNET: Gibt es eigentlich Kontrollinstanzen auf internationaler Ebene?
Kirchschläger: Es gibt auf europäischer und internationaler Ebene Kontrollinstanzen. Dennoch besteht im Bereich der digitalen Transformation und des Einsatzes von datenbasierten Systemen DS dringender Handlungsbedarf, weil die Menschenrechte im Zuge dieses technologiebasierten Wandels bisher unter die Räder kamen. Da die ethischen Chancen und die ethischen Risiken von enormem Gewicht für die Menschheit und unseren Planeten sein können, schlage ich die Schaffung einer globalen Aufsichtsinstitution im Bereich der datenbasierten Systeme DS – analog zur Internationalen Atomenergiebehörde IAEA – vor, um die Realisierung der Menschenrechte zu garantieren und die gezielte Nutzung der ethischen Chancen sowie die rechtzeitige Vermeidung der ethischen Risiken zu fördern. Die Internationale Datenbasierte Systeme-Agentur DSA sollte das zentrale zwischenstaatliche Forum für die wissenschaftliche und technische Zusammenarbeit im Bereich der digitalen Transformation und der datenbasierten Systeme DS sein. Sie sollte in die UN integriert sein und sich für die sichere und friedliche Nutzung datenbasierter Systeme einsetzen und so zu Frieden und Sicherheit in der Welt, zur Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte und zu den Zielen für nachhaltige Entwicklung der UN beitragen.
LEADERSNET: Ist auch die heutige Marketingsprache eine Quelle für Menschenrechtsverletzungen?
Kirchschläger: Marketingsprache kann Gefahr laufen, z.B. diskriminierend oder rassistisch zu sein (beispielsweise wenn sie Vorurteile transportiert und so zu ihrer Verfestigung beiträgt) und so Menschenrechte zu verletzen, was unbedingt vermieden werden sollte. Darüber hinaus kann sie sich auf einem schmalen Grat zwischen ethisch unproblematischer Kommunikation bzw. Information und menschenrechtsverletzender Manipulation wiederfinden. Manipulation liegt dann vor, wenn Menschen beeinflusst werden, ohne dass sie merken oder merken können, dass sie beeinflusst werden. Manipulation ist aus menschenrechtlicher Sicht inakzeptabel, da die Autonomie eines Individuums respektiert werden muss.
LEADERSNET: Wer könnte aller beitragen, die ethischen Chancen der digitalen Transformation zu nutzen?
Kirchschläger: Staaten tragen die primäre, aber nicht alleinige Verantwortung dafür, digitale Transformation und die Rahmenordnung für das Design, die Entwicklung, die Produktion, die Nutzung, aber auch die Nichtverwendung datenbasierter Systeme DS so zu gestalten, dass technologiebasierte Innovationen dem Wohlergehen aller Menschen und unseres Planeten dienen und nicht wie bisher nur der Gier einiger weniger. Und dass technologiebasierte Innovationen mit Respekt vor der Menschenwürde und den Menschenrechten aller und auf nachhaltige Weise geschaffen, konzipiert, entwickelt, produziert und genutzt oder nicht verwendet werden. Staaten tragen diese Verantwortung gemeinsam mit nichtstaatlichen Akteur:innen, wie z.B. Unternehmen, der Zivilgesellschaft und uns als Konsument:innen und Bürger:innen. Dabei ist die Verantwortung von Staaten und Unternehmen am größten, da ein Mehr an Macht und Einfluss auch zu einem Mehr an Verantwortung führt. (jw)
www.unilu.ch
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