Interview von Kartin Pollack
LEADERSNET veröffentlicht nun regelmäßig Interviews, Porträts und Servicegeschichten von aehre. Dabei befasst sich das Nachhaltigkeits-Businessmagazin stets mit einem der zentralen Themen der Gegenwart: Nachhaltigkeit, in allen ihren Facetten von Environment über Social bis Governance.
Nachdem es in der vergangenen Woche bereits um das Thema Menschen mit Behinderungen und Inklusion gegangen war und von Barbara Redlein (PwC) und Wolfgang Kowatsch (myAbility) erklärt wurde, wie sich Fortschritte diesbezüglich in Unternehmen messen lassen, spricht nun Caroline Casey im Interview darüber, wie sie auf die Innovationskraft von Menschen mit Behinderungen aufmerksam macht. Laut ihr habe Inklusion nämlich nichts mit Charity zu tun.
Menschen mit einer Mission sind viel unterwegs. Wenn sie damit international so erfolgreich sind wie Caroline Casey, dann bedeutet das, zwischen Zeitzonen zu leben. Eben kommt sie aus New York, ist für eine Nacht in Paris. Dass sie angestrengt ist, sieht man der Aktivistin, Sprecherin und Gründerin von Valuable500 nicht an. Das Energielevel für ihre Sache ist maximal. Sie richtet sich den Bildschirm in ihrem Hotelzimmer ein und spricht mit aehre darüber, warum sie die Welt verändern will.
© Chris Singer
aehre: Arbeitskraft ist in der westlichen Welt ein teures Gut. Deshalb sind Effizienz und Leistung auch hochgeschätzte Qualitäten bei Mitarbeitenden. Können Menschen mit Behinderungen diese Kriterien erfüllen?
Caroline Casey: Das Wichtigste zuerst: Es ist ein Fehlschluss zu glauben, dass Menschen mit Behinderungen Leistungsstandards nicht erbringen können. Das Gegenteil ist der Fall, würde ich sagen. Sie sind eine wertvolle Ressource. Die Voraussetzung dafür ist, dass wir ein Umfeld schaffen, in dem Menschen mit Behinderung gut arbeiten können. Ist das der Fall, dann stellen sie ein enormes Potenzial dar. Unternehmen sollten diese Talente nutzen, um Innovationen voranzutreiben.
»Es gibt weltweit 1,3 Milliarden Menschen, die – so wie ich – mit einer Behinderung leben.« Caroline Casey
aehre: Inwiefern?
Casey: Es ist den wenigsten bewusst, doch es gibt weltweit 1,3 Milliarden Menschen, die – so wie ich selbst – mit einer Behinderung leben. Im deutschsprachigen Raum allein sind es 13,4 Millionen. Das ist eine wirklich große Gruppe, die deshalb ihre Skills nicht einbringen kann, weil sie mit einer ganzen Reihe von unterschiedlichen Barrieren konfrontiert ist. Wenn wir diese Hürden beseitigen, können Behinderungen zu einem echten Wettbewerbsvorteil werden.
aehre: Was genau verstehen Sie unter Wettbewerbsvorteil?
Casey: Menschen mit Behinderungen haben eine andere Sichtweise auf die Welt. Und Unternehmen, die innovativ sind, brauchen diese neuen Perspektiven. Denn damit verbunden sind natürlich auch Strategien für Problemlösungen, neue Produkte und neue Dienstleistungen. Erfahrungsgemäß sind solche Strategien dann auch sehr attraktiv für die Allgemeinheit. Es geht darum, dass Unternehmen den Mut haben, sich auf solche Mindsets einzulassen.
aehre: Können Sie Beispiele zur Veranschaulichung nennen?
Casey: SMS-Textnachrichten zum Beispiel. Sie wurden ursprünglich als
Kommunikationstool für Gehörlose entwickelt. Heute chatten junge Leute mehr als sie telefonieren. Ein anderes Beispiel sind Fernbedienungen. Sie wurden ursprünglich für Blinde entworfen, aber mit der Zeit wurden daraus viele unterschiedliche Geräte, mit denen wir heute technisches Equipment aller Art steuern. Solche Dinge passieren, wenn Menschen mit Behinderungen in Design- und Entwicklungsprozesse miteinbezogen werden. Die Idee der Fernbedienung war tatsächlich eine Revolution.
aehre: Was sind die Hürden?
Casey: Dieses allgegenwärtige Schweigen rund um Behinderungen ist das größte Problem, und ich bin selbst das beste Beispiel dafür.
aehre: Warum sind Sie das beste Beispiel?
Casey: Ich habe okularen Albinismus, eine Augenerkrankung, die mich als blind gelten lässt. Ich kann nur 15 Zentimeter weit scharf sehen. Meine Eltern haben mich so erzogen, als hätte ich diese Erkrankung nicht, und deshalb habe ich überhaupt erst mit 17 Jahren von meiner Behinderung erfahren. Zuerst weigerte ich mich, diese Diagnose zu akzeptieren, machte weiter, als ob nichts wäre. Aber irgendwann konnte ich einfach nicht mehr. Das war dann der Moment, in dem ich zu einer Aktivistin für Menschen mit Behinderungen geworden bin.
aehre: Was war der erste Schritt?
Casey: Die Erkenntnis, dass Angst vor Stigmatisierung die Hauptursache dafür ist, nicht über die eigene Behinderung zu sprechen. So wie es mir ging, geht es vielen. Aber es ist nicht nur das eigene Schweigen, sondern auch jenes der anderen, das verunsichert. Ich habe es am eigenen Leib erlebt, was passiert, wenn wir das Schweigen brechen. Ich kann nur sagen: Es verändert sich dadurch alles.
aehre: Wie definieren Sie eigentlich Behinderung?
Casey: Nach der UN-Konvention: Sie umfasst sämtliche körperliche und psychische Beeinträchtigungen. Das kann die Mobilität der Menschen betreffen, aber auch kognitive Fähigkeiten. Das Schwierige an Behinderungen ist, dass sie nicht einheitlich zu betrachten sind. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass jedes Individuum eine eigene Lebenswirklichkeit und damit eine einzigartige Erfahrungswelt in sich trägt.
»Das Marktpotenzial für Menschen mit Behinderungen beläuft sich auf 30 Milliarden Dollar.« Caroline Casey
aehre: Wie viele Menschen betrifft das?
Casey: Weltweit leben 16 Prozent aller Menschen mit einer Behinderung. 80 Prozent aller Behinderungen sind für Außenstehende nicht erkennbar, das macht also einen hohen Anteil aus. Wir können es aber auch noch weiter fassen: 54 Prozent aller Menschen haben eine persönliche Erfahrung mit Behinderung, weil sie in Kontakt zu Menschen mit Behinderungen stehen, also Freunde oder Familie sind. Diese Zahlen sprechen für sich. Behinderung ist kein Nischenthema, es ist Mainstream und damit ein attraktives Geschäftsfeld.
Tabu brechen. Angst vor Stigmatisierung war auch für Caroline Casey der Grund, nicht über ihre Behinderung zu sprechen © Chris Singer
aehre: Deshalb haben Sie auch Valuable500 gegründet?
Casey: Genau, die Wirtschaft hat das Potenzial von Menschen mit Behinderungen nicht erkannt und Inklusion als Business-Chance ignoriert. Folglich sieht auch die Gesellschaft den Wert von Menschen mit Behinderungen viel zu wenig. Wir haben errechnet, dass sich das Marktpotenzial auf rund 30 Milliarden Dollar beläuft. Traurigerweise finden nur 50 Prozent aller Menschen mit Behinderungen eine Anstellung, sind also stark armutsgefährdet. Und ebenso dramatisch ist die Tatsache, dass 90 Prozent der Kinder mit Behinderungen keine ihnen angemessene Ausbildung erhalten. Das will ich verändern.
aehre: Wie genau?
Casey: In meiner Zeit als Aktivistin für Behindertenrechte hatte ich das Glück, Sheryl Sandberg bei einem TED-Talk zu hören. Sie war damals in der Geschäftsführung von Facebook und setzte sich mit der ganzen Kraft dieser Brand für Geschlechtergerechtigkeit ein. Da wurde mir klar, dass ich CEOs gewinnen muss. Wenn die Geschäftsführung an Bord ist, ist echter Wandel möglich. Und das ist auch die Idee von Valuable500. Es ist eine Plattform für Unternehmen, die Menschen mit Behinderungen als Chance erkennen.
aehre: Und das funktionierte?
Casey: Ja. 2019 startete Valuable500 am Weltwirtschaftsforum in Davos. Wir hatten CEOs von Bloomberg, Unilever, Fujitsu, Accenture und Procter & Gamble auf der Bühne. Behinderung und Inklusion wurden dadurch zu prominenten Themen, und das hatte rückblickend einen unglaublich beschleunigenden Effekt, eine Katalysatorwirkung sozusagen. Es war die Macht dieser Marken, die das Schweigen rund um Behinderungen gebrochen hat.
aehre: Inwiefern brachte das einen Durchbruch?
Casey: Inklusion von Menschen mit Behinderungen war bis dahin nie auf dem Radar der CEOs. Inklusion war nicht deren Thema. Doch Sheryl Sandberg machte mir gerade klar, dass Inklusion eine Sache der Geschäftsführung sein muss, wenn sich Dinge verändern sollen. Denn wenn das Thema Priorität hat, dann werden Projekte aufgesetzt, Budgets freigemacht, Deadlines gesetzt.
aehre: Es geht also bei Inklusion um Leadership?
Casey: Absolut. Hier zitiere ich den Psychologen und ehemaligen Basketballspieler John Amaechi, der sagt: „Es sind immer die Führungskräfte, die Entscheidungen treffen – und Entscheidungen machen die Kultur aus, die andere umsetzen.“ Und das stimmt einfach. Behinderungen sind etwa im Vergleich zu Genderfragen und Diversitätsdebatten immer unter dem Radar gelaufen. Davos hat das verändert. Wenn die Unternehmensführung sich in Sachen Inklusion verpflichtet, beginnt Transformation.
aehre: Wie sollte das also konkret in Unternehmen ablaufen?
Casey: Wichtiger als alles andere ist, offen über Behinderungen zu sprechen und Menschen mit Behinderungen bei Entscheidungen miteinzubinden – und zwar auf sämtlichen Ebenen. Inklusion findet nicht in einer einzigen Unit statt, sondern auf allen Stufen eines Unternehmens.
»Behinderung kann jeden von uns treffen, von heute auf morgen. Das ist die Realität.« Caroline Casey
aehre: Wie funktioniert Inklusion konkret?
Casey: Vor allem auf der Ebene der Unternehmenskultur. Unternehmen brauchen Räume, in denen offen über Behinderungen gesprochen wird. Dafür müssen Situationen und Anlässe geschaffen werden.
aehre: Wo noch?
Casey: Überall. Personalabteilungen könnten Jobs für Menschen mit Behinderungen ausschreiben. Im Marketing könnte man sich überlegen, was Barrierefreiheit alles bedeuten könnte, welche Services interessant wären und welche Narrative dafür entwickelt werden sollten. Auch die Produktteams könnten gezielt an inklusiven Designs für Waren und Services arbeiten. Beschaffungsabteilungen könnten ebenfalls inklusiv arbeiten, beispielsweise in Lieferketten, die Behinderung berücksichtigen. Entscheidend ist, dass Inklusion messbar wird. Nur so lässt sich Fortschritt darstellen.
aehre: Wie treiben Sie das voran?
Casey: Wir motivieren unsere Valuable500- Partner und Unternehmen, Inklusionsaktivitäten in den drei Schlüsselbereichen Berichterstattung, Führung und Repräsentation zu vereinheitlichen. Entscheidend ist, dass diese Werte transparent sind und somit auch vergleichbar werden. Nur wenn wir messen, können wir sehen, dass vereinbarte Ziele eingehalten werden, und letztlich lässt sich Erfolg und Fortschritt in puncto Inklusion dann auch bestimmen. Im Dezember 2025 planen wir einen Inklusionsgipfel, die SYNC25, auf dem CEOs berichten werden – von der Führungsebene bis hin zu den Kommunikationsabteilungen. Der Gamechanger wird das inklusive Reporting sein.
aehre: Was ist inklusives Reporting?
Casey: Unser Anliegen ist es, in Zahlen darzustellen, welchen Beitrag Menschen mit Behinderung am Endergebnis eines Unternehmens leisten. Dafür haben wir "Key Performance Indicators" (KPIs) entwickelt, also Kennzahlen, die digitale Barrierefreiheit, Budgets für Inklusion, Schulungen und unternehmensinterne Initiativen zur Inklusion erheben. Wir haben bereits 20 Prozent unserer Unternehmen an Bord. Wenn jedes davon diese Kennzahlen in die Jahresberichte aufnimmt, werden sich die Dinge wirklich verändern.
aehre: Alle Unternehmen in der EU arbeiten an ESG-Berichten, das "S" steht für soziales Engagement, da würde Inklusion gut reinpassen, oder?
Casey: Wir wollen "Disability" fest im Bereich der sozialen Kennzahlen der ESG-Berichte verankern, also unsere KPIs in die Nachhaltigkeitsreports integrieren. Denn man kann nur nachhaltig sein, wenn Menschen mit Behinderungen in die Gesellschaft einbezogen werden. Inklusion ist entweder für alle oder für keinen. Es ist letztlich auch eine Frage der Menschenrechte und damit der Demokratie.
aehre: Auch im Hinblick auf die alternde Gesellschaft?
Casey: Absolut. Ganz besonders in Europa leben wir in alternden Gesellschaften. Das Rentenalter von 65 Jahren wird vielleicht schon bald Geschichte sein und die Frage ist, wie sich Unternehmen auf so eine Zukunft einstellen. Mit dem Alter kommt oft auch Behinderung. Und damit ist das Thema „Inklusion“ noch für viel mehr Menschen relevant, weil es sie persönlich betrifft. Da gibt es mannigfaltige Fragen zu lösen und genau in diesen Punkten, denke ich, wird die Erfahrung von Menschen mit Behinderungen ein wirklicher Benefit für Unternehmen sein. Unternehmen, die all diese Fragen ignorieren, gehen das Risiko ein, für gesellschaftliche Veränderungen nicht gerüstet zu sein.
Strategie. Caroline reist rund um den Erdball und überzeugt CEOs, Teil von Valuable500 zu werden. Inklusion passiert nur, wenn die Geschäftsführung an Bord ist, sagt sie © Chris Singer
aehre: Und auf einer persönlichen Ebene?
Casey: Da kann Behinderung jeden von uns treffen, von heute auf morgen. Das ist die Realität. Inklusion hat nichts mit Wohltätigkeit zu tun, es geht darum, eine Welt zu schaffen, die für alle funktioniert. –
Mehr zum Thema Inklusion finden Sie in diesem Beitrag und mehr zum Thema Nachhaltigkeit finden Sie im neuen Nachhaltigkeits-Businessmagazin aehre auf www.aehre.media und in der neuen Ausgabe – ab sofort erhältlich am Kiosk.
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