Gastkommentar Ralf-Wolfgang Lothert
Bürokratieabbau jetzt – aber wie?

| Redaktion 
| 20.10.2024

Gastkommentar von Ralf-Wolfgang Lothert, Mitglied der Geschäftsleitung und Director Corporate Affairs & Communication von JTI Austria.

Vielleicht, geneigte Leser:innen, denken Sie sich: Bürokratieabbau? Schon wieder? Ja, es ist nicht das erste Mal, dass ich mich diesem Thema widme und vermutlich wird es auch nicht das letzte Mal gewesen sein. Die Nationalratswahlen haben der Problematik nun neuerlich Aktualität verliehen – doch einmal mehr müssen wir erkennen, wie wenig hier weitergeht.

Ernstzunehmende Hindernisse für Fortschritt und Wachstum

Seit über 30 Jahren versprechen uns Regierungen und Parteien den Abbau der Bürokratie. Doch bislang ist kaum etwas passiert. Sowohl die Industrie als auch Bürger:innen empfinden Bürokratie und Überregulierung zunehmend nicht nur als Ärgernis, sondern als ernstzunehmende Hindernisse für Fortschritt und Wachstum. Bürokratie gefährdet unseren Wohlstand, hemmt Investitionen und erschwert die Schaffung von Arbeitsplätzen. Länder außerhalb der EU blicken oft mit Kopfschütteln auf unsere bürokratischen Prozesse. Während in vielen Ländern Genehmigungen für Neubauten oder Industrieansiedlungen innerhalb eines Jahres erteilt werden, sind in Europa in diesem Zeitraum oft noch nicht einmal die ersten Gespräche geführt.

Ein besonders absurdes Beispiel lieferte jüngst meine – politisch von Grund auf grüne – deutsche Heimatstadt Tübingen. Dort sollte der dringend notwendige Ausbau der Universitätsklinik erfolgen. Allerdings nistete auf dem vorgesehenen Gelände eine seltene Vogelart. Um bauen zu können, hätte diese umgesiedelt werden müssen – jedoch bevorzugt der Vogel waldarme Gebiete, sodass eine Ersatzfläche von mehreren Hektar Wald hätte gerodet werden müssen. Glücklicherweise wurde dieser Unsinn gestoppt, zumal der Vogel in den letzten Monaten nicht mehr gesichtet wurde. Solche Beispiele sind keine Seltenheit.

Neue Berichtspflichten kommen hinzu

Zusätzlich zu dieser Überregulierung kommen in den letzten Jahren immer neue Berichtspflichten hinzu. Beispiele hierfür sind das Lieferkettengesetz oder die ESG-Reporting-Vorgaben, die Unternehmen zu übermäßigem bürokratischen Aufwand zwingen. Dabei ist doch allen klar: Ein Abbau der Bürokratie würde nicht nur die Industrie und die Bürger:innen entlasten, sondern auch die Verwaltung, die ohnehin dringend mehr Ressourcen für ihre Kernaufgaben benötigt.

Vor den Nationalratswahlen in Österreich haben erneut alle Parteien Bürokratieabbau und den Kampf gegen Überregulierung versprochen. Auch die EU-Kommissionspräsidentin hat eine Reduzierung der Vorschriften und Bürokratie um 25 Prozent angekündigt. Doch bislang ist nichts geschehen. Der letzte nennenswerte Versuch, die Bürokratie zu reduzieren, stammt aus dem Jahr 2018, als der damalige Justizminister Josef Moser eine Rechtsbereinigung anstrebte – leider ohne nachhaltigen Erfolg.

Konkrete Vorschläge 

Wie könnte man nun den Bürokratieabbau konkret angehen? Aus meiner Sicht bräuchte es dazu die folgenden Punkte – wie immer ohne Gewähr auf Vollständigkeit.

  1. Verankerung im Regierungsprogramm: Bürokratieabbau und Deregulierung müssen klare Bestandteile des Regierungsprogramms sein. Es gilt das Prinzip "Eigenverantwortung vor Nanny-Staat".
  2. Zentralisierung der Verantwortung: Ein Ministerium muss die klare Zuständigkeit für die Koordination des Bürokratieabbaus übernehmen.
  3. Überprüfung bestehender Gesetze: Innerhalb des ersten Regierungsjahres sollte eine Kommission unter Einbeziehung der Sozialpartner, Industrie und Expert:innen eine umfassende Überprüfung aller veralteten und unnötigen Gesetze und Verordnungen durchführen. Innerhalb eines weiteren halben Jahres müssen die zu streichenden Gesetze und etwaige notwendige Anpassungen dem Nationalrat zur Entscheidung vorgelegt werden.
  4. EU-rechtliche Vorgaben minimieren: Alle auf EU-Recht basierenden Gesetze und Vorschriften sollten spätestens im gleichen Zeitraum auf das notwendige Mindestmaß reduziert werden.
  5. Einführung von Sunset-Klauseln: Künftige Gesetze sollten mit einer zeitlichen Verfallsklausel (Sunset Clause) versehen werden, um eine regelmäßige Überprüfung zu gewährleisten.
  6. Subsidiaritätsprinzip stärken: In enger Zusammenarbeit mit der EU müssen Vorschriften unter Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips auf das Nötigste reduziert werden.
  7. Kompetenzverflechtungen entwirren: Ein weiterer, politisch heikler, aber äußerst wichtiger Punkt ist die Kompetenzverflechtung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden in Österreich, die schleunigst entwirrt und neu geregelt werden müsste.
  8. Kultureller Wandel: Wir müssen auch mental einen Wandel vollziehen. Die Menschen haben sich daran gewöhnt, dass alles bis ins kleinste Detail geregelt ist. Eigenverantwortung und gesunder Menschenverstand müssen wieder stärker in den Fokus rücken. Dafür braucht es auch ein neues Mindset.

Dieser Prozess wird sicherlich nicht einfach. Er wird Kraft und Aufwand erfordern und vielleicht da und dort schmerzhaft sein. Einige Menschen werden Aufgaben und Zuständigkeiten verlieren, aber eines ist klar: Ein "weiter wie bisher" wird unsere Wirtschaft und Gesellschaft nicht verkraften. Auch der Industrie, vor allem großen Unternehmen, würde ein Entschlackungsprogramm gut anstehen, um sich auf eine weniger regulierte Zukunft einzustellen.

In diesem Sinne sind wir alle aufgerufen, einerseits in den eigenen Unternehmen mit gutem Beispiel voranzugehen und dieses Mindset zu etablieren, andererseits aber auch nicht müde zu werden, den Bürokratieabbau immer und immer wieder von den politisch Verantwortlichen einzufordern. Dies erhöht die Glaubwürdigkeit, die wir uns – jetzt, aber wirklich – auch von den (zukünftigen) Entscheidungsträger:innen und Gesetzgeber:innen erwarten!

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