Wie einig ist das vereinte Deutschland?

| Redaktion 
| 08.10.2023

Gastkommentar von Ralf-Wolfgang Lothert, Mitglied der Geschäftsleitung und Director Corporate Affairs & Communication von JTI Austria.

Die Teilung Deutschlands infolge des Zweiten Weltkrieges ist nun bereits seit 33 Jahren Geschichte, vergangene Woche, am 3. Oktober feierte der große Nachbar Österreichs den Jahrestag seiner Wiedervereinigung. Viele Medien wie auch Privatpersonen haben sich aus diesem Anlass Gedanken über den aktuellen "vereinten" Zustand des Landes gemacht – so auch ich. Die Tendenz ist eindeutig wie erschütternd: von Einigkeit ist man weit entfernt.

Gravierende Unterschiede

Bereist man heute die Bundesrepublik, liest Presseberichte oder beobachtet die politischen Entwicklungen in den sechs "Neuen Bundesländern", kurz NBL, gewinnt man den Eindruck, dass hier so gar nichts zusammenpasst. Einem Bericht des deutschen Finanzmagazins extraETF zufolge gelten die NBL nach wie vor als strukturschwach, es gebe weniger Arbeitsstellen und die Löhne fielen geringer aus. Besser schnitten sie jedoch in Sachen Gender Pay Gap und Kinderbetreuung ab. Konstatiert werden nach wie vor gravierende Unterschiede zwischen Ost und West, und das empfinden auch die Bürger:innen so. 60 Prozent der Teilnehmer:innen einer Umfrage für das Magazin Stern sind der Meinung, dass Ost und West nach wie vor mehr trennen als verbinden würde.

Die politischen Entwicklungen bestätigen dies, zumindest zeigen die Voraussagen in eben diese Richtung. So wird in jenen drei NBL, in denen kommendes Jahr gewählt wird, die äußerst rechte AfD als stimmenstärkste Partei gehandelt. Wo aber liegen die Gründe dafür, dass Ost und West noch immer nicht zusammengewachsen sind bzw. es so aussieht, als würden sie immer weiter auseinanderdriften? Die Antwort darauf kann weder einfach noch eindeutig ausfallen, doch anhand von persönlichen Erlebnissen und Beobachtungen möchte ich eine Erklärung versuchen. Die gute Nachricht, entsprechend einer Umfrage für die Bild am Sonntag, vorweg: Je jünger die Generation, desto unwichtiger die innerdeutsche Herkunft.

Ich selbst habe früher an jenem 17. Juni für eine Wiedervereinigung von Ost und West in West-Berlin demonstriert. Voller Enthusiasmus habe ich sofort nach der Wiedervereinigung und meinem zweiten juristischen Staatsexamen und der Anwaltszulassung bei der Treuhandanstalt in Berlin meine Tätigkeit aufgenommen. Die Anstalt des Öffentlichen Rechts war mit der Aufgabe betraut, die volkseigenen Betriebe der DDR nach den Grundsätzen der sozialen Marktwirtschaft zu privatisieren, wettbewerbsfähig zu machen oder stillzulegen. Anfangs herrschte die Ansicht, dass dies aufgrund des immens guten Industrie- und Wirtschaftsteils der DDR eine, jedenfalls in finanzieller Hinsicht, positive Aufgabe sei. Selten hat man sich so getäuscht.

Gesamtkosten der deutschen Einheit

1995 folgte die Gründung eines Erblastentilgungsfonds (welcher inzwischen getilgt ist), mit umgerechnet 172 Milliarden Euro Schulden, rein aus der Arbeit der Treuhandanstalt. Laut Schätzungen betragen die Gesamtkosten der deutschen Einheit – dazu gehört etwa der Transfer der Sozialleistungen, Renten- und Sozialversicherungen – bis heute zwischen zwei und vier Billionen Euro, das sind vier Millionen Millionen, oder viertausend Milliarden oder eine Vier mit 12 Nullen – egal, wie man es schreibt, eine unfassbare Summe. Dazu zahlten bis 2021 alle Bürger:innen Deutschlands den sogenannten Solidaritätszuschlag, eine 1991 eingeführte und ursprünglich auf ein Jahr befristete Ergänzungsabgabe zur Einkommens- und Körperschaftssteuer, aus der unter anderem Mehrbelastungen wie die Kosten der deutschen Einheit gedeckt werden sollten.

Befindlichkeiten und Erwartungshaltungen

Zu diesen finanziellen Aspekten gesellten sich außerdem persönliche Befindlichkeiten und enttäuschte Erwartungshaltungen auf beiden Seiten. Während der Westen wohl mehr Demut und Dankbarkeit für die Freiheit bzw. Befreiung erwartet hätte, wurde gleichzeitig alles verdammt, was damals in der DDR produziert und verkauft wurde – gut war nur, was aus dem Westen kam. Zwei Drittel der Menschen in den NBL mussten sich beruflich neu ausrichten, was nicht immer von Glück gekrönt war und damit viele familiäre Verwerfungen zur Folge hatte. Genauso wenig entpuppte sich jede westliche Investition als Erfolgsgeschichte.

Und noch ein wesentlicher Punkt kommt hinzu, der sich nur ganz langsam in den Köpfen der Bürger:innen veränderte: In der damaligen DDR wurden viele Dinge vorgegeben und dann einfach gemacht. Die Demokratie war dazu das krasse Gegenteil, diese Demokratie musste erst gelernt werden, vor allem nämlich, dass sie viel komplizierter ist. Und so konnten viele Bürger:innen der NBL auch nicht akzeptieren, dass sie nach langer und harter Arbeit schlechter gestellt werden sollten als die "Westler", während jedoch gleichzeitig Asylwerber:innen herbeiströmen, die ohne irgendein Zutun volle Sozialleistungen erhalten. Gegen all diese Ungleichheiten sahen sich die Bewohner:innen der NBL durch niemanden, vor allem aber von keiner der bestehenden Parteien wirklich vertreten.

All diese Probleme haben sich in den letzten Jahren immer weiter aufgeschaukelt und damit die Differenzen weiter befeuert. Verhältnismäßig nebensächlich wirkt daneben mein letztes Beispiel, welches vor allem in den NBL auf Unverständnis gestoßen ist, wo viele nach der Wende – und noch bis heute – ihre Holz- und Kohle-Heizungen auf Öl und Gas umgestellt haben, und von denen nun die Ampelregierung per neuem Heizungsgesetz den Umstieg auf Heizwärmepumpen verordnen will.

Auf Errungenschaften besinnen

Solcherlei Beispiele gäbe es noch zahlreiche, und sie alle tragen nicht dazu bei, dass man von einer Einheit sprechen könnte. Das ist nicht nur schade, sondern teilweise nicht gerechtfertigt, denn es gibt nicht nur augenscheinlich, sondern auch faktisch riesige Erfolge in den NBL, auf die sich verweisen lässt. Dazu zähle ich etwa die Sanierung des ehemaligen Chemiedreiecks Leuna-Buna-Bitterfeld. Aber auch Städte wie Dresden, Leipzig oder die Tourismusregion Ostsee präsentieren sich höchst unterschiedlich im Vergleich zu vor 33 Jahren. Dazu konnte eine Angleichung der Rentenwerte in Ost und West erreicht werden. Aber die wohl eindrücklichste Errungenschaft ist die Freiheit, die jede und jeder einzelne genießen kann.

Noch ist die Einheit nicht da angelangt, wo wir sie uns wünschen würden, sie hatte vielleicht auch schon bessere Zeiten, aber daran tragen wir auch selbst eine gewisse Mitschuld. Nicht nur die Medien, auch wir Menschen heben in unserem persönlichen Umgang viel zu oft die Unterschiede zwischen Ost und West hervor und tragen damit selbst zur Ost-West-Spaltung bei.

Was ich mir deshalb wünsche und daher auch selbst vornehme ist, sich auf das Positive und auf die bisherigen Errungenschaften zu besinnen. Wie bereits erwähnt spielt die innerdeutsche Herkunft von Generation zu Generation eine geringere Rolle, eine echte Einheit werden wir deshalb voraussichtlich erst in zwei bis drei Generationen erleben. Bis dahin können wir aber jedenfalls mit Fakten und allem, was wir sagen und tun zu einer besseren Stimmung beitragen, sodass die Gräben zwischen Ost und West verkleinert und das Abdriften in noch extremere Meinungen und Positionen vermindert werden.

www.jti.com


Kommentare auf LEADERSNET geben stets ausschließlich die Meinung des jeweiligen Autors bzw. der jeweiligen Autorin wieder, nicht die der gesamten Redaktion. Im Sinne der Pluralität versuchen wir unterschiedlichen Standpunkten Raum zu geben – nur so kann eine konstruktive Diskussion entstehen. Kommentare können einseitig, polemisch und bissig sein, sie erheben jedoch nicht den Anspruch auf Objektivität.

Entgeltliche Einschaltung

Kommentar schreiben

* Pflichtfelder.

leadersnet.TV