Interview mit Valerie Höllinger
"Eine diverse und gleichberechtigte Gesellschaft ist für die Wirtschaft absolut notwendig"

Die erste österreichische Norm wurde vor über 100 Jahren festgelegt. Seither hat sich die Gesellschaft stark gewandelt – doch Standards werden überwiegend von Männern definiert. Valerie Höllinger, CEO und Managing Director von Austrian Standards, spricht im LEADERSNET-Interview darüber, wie sie dies ändern möchte, warum Diversität in der Standardisierung unumgänglich ist und wie Wirtschaft und Gesellschaft davon profitieren.

LEADERSNET: Austrian Standards feierte vor vier Jahren das 100-jähirge Gründungsjubiläum. Wofür steht Austrian Standards heute und wie hat sich diese in den letzten Jahren verändert?

Valerie Höllinger: Austrian Standards steht seit der Gründung im Jahr 1920 für die Koordinierung von Schwarmwissen, um Lösungen zu finden. Damals hieß der Verein "Österreichischer Normenausschuss für Industrie und Gewerbe" (ÖNIG). Heute ist Standardisierung in allen Bereichen angekommen und wir freuen uns über die rege Beteiligung von Wirtschaft, Interessensvertretungen, NGOs, Forschungsorganisationen und Bildungseinrichtungen. Besonders hervorheben möchte ich die KMU-Beteiligung: 44 Prozent von den Institutionen, die Teilnehmende in Komitees und Arbeitsgruppen bei Austrian Standards entsenden, sind KMU. Gemeinsam erarbeiten wir Standards, die als unsichtbare Kraft in fast allen Lebensbereichen wirken.

LEADERSNET: Die erste österreichische Norm wurde vor über 100 Jahren definiert. Seitdem hat sich in der Gesellschaft viel getan. Trotzdem werden Standards noch immer überwiegend von Männern definiert. Wie wollen Sie das ändern?

Höllinger: Wenn ich mir die historische Timeline unserer Organisation ansehe, sind in den Anfangsjahren ausschließlich honorige Herren auf den Fotos. Wir brauchen definitiv mehr weibliche Positionen und Sichtweisen in der Standardisierung – das ist ganz klar. Bereits 1927 gab es die erste Vorsitzende für die Abteilung "Haushaltsnormen" und in den 1930er Jahren waren mehrere Frauen in Komitees aktiv, zwar in den "klassischen" Frauenbereichen wie Pflege, aber immerhin. Österreich war in den 1980er Jahren Vorreiter in der Standardisierung von Umweltthemen. Dabei war eine Frau als Komitee-Managerin federführend.

Seitdem hat sich einiges zum Positiven verändert, aber es geht nicht rasch genug. Ziel sollte eine 50:50-Beteiligung auf allen Ebenen sein, davon sind wir leider noch weit entfernt. Das ist nicht österreich-spezifisch, sondern ein internationales Phänomen. Deshalb wird auch international daran gearbeitet, das zu ändern. Auf internationaler Ebene gibt es in den Standardisierungsorganisationen Bestrebungen, die Prozesse inhaltlich und organisatorisch moderner und diverser zu gestalten.

2019 haben wir zusammen mit anderen Normungsorganisationen die UNECE-Erklärung ("United Nations Economic Commission for Europe") für geschlechtergerechte Standards unterzeichnet. Damit haben wir uns verpflichtet, Geschlechtergerechtigkeit in allen Aspekten der Normung zu berücksichtigen. Ein wesentlicher Teil davon ist die Förderung der Beteiligung von Frauen im Standardisierungsprozess, um sicherzustellen, dass Bedürfnisse und Perspektiven von Frauen eingebunden werden.

Zu den Maßnahmen zur Umsetzung von "Gender responsive Standards" gehört etwa eine Checkliste, mit der die Komitee-Teilnehmenden überprüfen können, ob die gerade erarbeitete Norm den Anforderungen an Geschlechtergerechtigkeit entspricht.

Das Thema Standards ist in vielen technischen Bereichen relevant, in denen nach wie vor mehr Männer als Frauen tätig sind. Die MINT-Berufe (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) werden bei Frauen zwar immer beliebter, aber da gibt es noch viel mehr Potenzial. Das ist u.a. auch ein Grund, warum wir das Wissen rund um Standards in den Lehrplänen besser verankert wissen wollen. Wir werden jedenfalls mehr Expertinnen für die Gestaltung von Zukunftsthemen benötigen. Als Gesellschaft können wir es uns gar nicht leisten, auf das Wissen und die Teilhabe von Frauen zu verzichten.

LEADERSNET: Warum ist eine diverse gleichberechtigte Gesellschaft aus Ihrer Sicht für die Wirtschaft vonnöten?

Höllinger: Eine diverse und gleichberechtigte Gesellschaft ist aus meiner Sicht für die Wirtschaft absolut notwendig, weil Vielfalt einfach bessere Ausgangslage schafft. Unterschiedliche Perspektiven führen zu mehr Innovation und besseren Lösungen. Gerade in der Standardisierung braucht es Menschen mit Erfahrungen und unterschiedlicher Expertise, um wirklich alle Standpunkte miteinzubinden und daraus praxisnahe Lösungen anzubieten.

Wir sehen das jeden Tag bestätigt: Je vielfältiger die Teams, umso kreativer sind sie und umso besser können sie auf die Anforderungen der Märkte eingehen. Vielfalt in den Vordergrund zu stellen, ist also nicht nur ein gesellschaftliches Ziel, sondern auch ein wirtschaftlicher Vorteil.

Und das gilt natürlich genauso für die Geschlechtergerechtigkeit. Frauen machen die Hälfte der Weltbevölkerung aus. Sie haben Bedürfnisse, die oft nicht abgedeckt werden, wenn sie nicht mitbestimmen. In den letzten Jahren ist deutlich geworden, dass in der Medizin oder beim Arbeitsschutz Frauen gefährdet sind, wenn der Mann als Modellmaßstab genommen wird. Als Beispiel nenne ich Helme, die zu groß sind, oder Atemschutzmasken, die nicht gut sitzen.

Wir als Gesellschaft befinden uns mitten in einem Transformationsprozess, den wir nur gemeinsam – unabhängig vom Geschlecht – meistern können. Klimawende, Künstliche Intelligenz, oder Mobilität werden noch viele Disruptionen verursachen, dafür müssen wir gewappnet sein, damit wir gut damit umgehen und ein besseres Leben für alle möglich wird.

LEADERSNET: Überregulierung versus zielführende Normen und gerechte Standards – wo sind hier die Grenzen zu definieren?

Höllinger: Überregulierung wird immer wieder im Zusammenhang mit Standards vermutet, aber eigentlich ist das Gegenteil der Fall. Eine Norm, die nicht verwendet wird oder nicht mehr zeitgemäß ist, wird zurückgezogen. Standards sind von ihrem Wesen her Hilfestellung, um Probleme zu lösen. Man könnte sie mit Fachliteratur vergleichen, in der steht, wie etwas funktioniert bzw. "how good looks like".

Standards sind grundsätzlich Empfehlungen: nur ein sehr geringer Prozentsatz an Standards sind verpflichtend, weil sie in Gesetzen namentlich erwähnt werden. Das ist vor allem bei Sicherheitsthemen der Fall, wie etwa den Warnwesten, die jede/r im Auto mitführen muss. Ein anderer Fall ist, wenn bestimmte Standards in Verträgen angeführt sind, dann sind sie natürlich einzuhalten.

In der Standardisierung geht es darum, ein Gleichgewicht zu finden und unterschiedliche Erwartungen auszubalancieren. Nehmen wir als Beispiel einen Spielplatz: Er muss sicher sein, aber auch den Kindern ermöglichen, den Umgang mit Risiken zu lernen. Diese Balance zu finden, ist die Kunst der Standardisierung.

Ein anderes Beispiel ist die Straßengestaltung: Einerseits möchten wir mehr Bäume als Hitzeschutz, andererseits benötigen wir Rohre für Wasser, Gas etc. Bäume brauchen Platz für ihre Wurzeln – wie soll der unterirdisch zur Verfügung stehende Raum genützt werden? Hier tauschen sich die jeweiligen Komitees untereinander aus, um die entgegenlaufenden Interessen zusammenzubringen.

Unsere Aufgabe ist es, diesen optimalen Kompromiss zu finden. Dazu bringen wir unterschiedliche Stakeholder zusammen. Wir fördern nicht nur Mitsprache, sondern auch eine enge Zusammenarbeit, damit intelligente, ausgewogene und zukunftsfähige Standards entstehen können.

LEADERSNET: Woran erkennen wir, dass sich unsere Gesellschaft in Richtung Gleichberechtigung entwickelt? Wie ist hier aus Ihrer Sicht der Status Quo?

Höllinger: Bei Austrian Standards haben wir bereits ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis. Vor kurzem haben wir das equalitA-Gütesiegel für innerbetriebliche Frauenförderung bekommen, worauf wir sehr stolz sind. Und wir haben in der Standardisierung die Weichen auf Gleichberechtigung gestellt, auch wenn es wahrscheinlich noch eine Weile dauern wird, bis diese Veränderungen komplett vollzogen sein werden.

Role Models sind sehr wichtig und wir sprechen aktiv Frauen für die Mitarbeit in der Standardisierung an. Ich freue mich sehr, dass wir z.B. die renommierte Expertin Carina Zehetmaier, Vorsitzende der "Woman in AI Austria", für unsere Arbeitsgruppe "Künstliche Intelligenz" gewinnen konnten, in der sie den Vorsitz übernehmen wird.

Unsere kontinuierlichen Bemühungen und die Einbeziehung vielfältiger Perspektiven tragen dazu bei, dass Standards gerechter, effektiver und sicherer werden. Das ist ein wichtiger Schritt in Richtung einer inklusiveren und gerechteren Gesellschaft, von der letztlich alle profitieren werden.

Deshalb möchte ich die Gelegenheit nutzen, um interessierte Frauen einzuladen, sich bei uns zu melden und mitzugestalten. Unsere Türen stehen offen!

www.austrian-standards.at

Kommentar schreiben

* Pflichtfelder.

leadersnet.TV