Gastkommentar Ralf-Wolfgang Lothert
Die nicht so schöne österreichische Verfassung

| Redaktion 
| 27.10.2024

Gastkommentar von Ralf-Wolfgang Lothert, Mitglied der Geschäftsleitung und Director Corporate Affairs & Communication von JTI Austria.

Liebe Leser:innen, heute habe ich mir vermeintlich schwere Kost zum Thema gemacht und ich hoffe, dass Sie mir trotzdem treu bleiben werden. In dieser Woche soll es um das österreichische Verfassungsrecht gehen und ich höre Sie schon sagen "was genau möchte uns ein deutscher Anwalt und Finanz-Mensch darüber erzählen?"

"Schönheit der österreichischen Verfassung"

Machen wir einfach mal einen Schritt zurück und beginnen wir ganz am Anfang: Ich bin auf das Thema gestoßen, als der amtierende Bundespräsident Alexander Van der Bellen rund um die Nationalratswahlen von der "Schönheit der österreichischen Verfassung" gesprochen hat. Schon war ich gefangen und habe begonnen zu recherchieren. Wo ist denn diese Verfassung und was steht da drin? Kleiner Spoiler: Es gibt eigentlich nicht die eine österreichische Verfassung. Anders als Verfassungsurkunden wie in den USA von 1787 oder das deutsche Grundgesetz von 1949 gibt es in Österreich nur ein buntes Sammelsurium von Verfassungsgesetzen z.B. das Bundes-Verfassungsgesetz von 1920, das Staatsgrundgesetz von 1867 und erst 1964 erhielt Österreich mit Aufnahme der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) in Verfassungsrang "wirklich" einen Menschenrechtskatalog. Und als wäre das nicht schon kompliziert genug, existieren dann noch viele weitere Gesetze in Verfassungsrang – wie zum Beispiel die Regelungen der – halten Sie sich fest – Wiener Taxikonzessionen oder des Düngemittel-Förderungsbeitrages im Marktordnungsgesetz. Zwar gab es Anfang der 2000er-Jahre den sogenannten Österreich-Konvent und damit den Versuch, die existierenden Verfassungsbestimmungen zu durchforsten und auf ein Fünftel zu reduzieren. Bis auf einen sehr fundierten Bericht basierend auf viel Arbeit hochqualifizierter Expert:innen rund um Franz Fiedler ist von dieser Initiative leider nicht sehr viel geblieben. Jedenfalls kann man bis heute in diesen sehr technischen, komplizierten und stark verstreuten Verfassungsgesetzen keine echte Schönheit erkennen.

Leitlinie unseres Denkens und Handelns als Nation

Recht und vor allem Gesetze sollten klar, einfach, zugänglich sein und für jede:n verständlich. Dass dies nicht immer der Fall sein kann, ist mir als Jurist klar, aber bei der Verfassung sollten die Bürger:innen doch einen klaren Zugriff auf ein Dokument haben und dies auch als große Leitlinie unseres Denkens und Handelns als Nation und zivilisierte Gesellschaft mit Leben füllen können. In Nationen wie den USA, in Frankreich, Deutschland oder der Schweiz sieht man, dass eben eine solche angreifbare, klar abgegrenzte Urkunde auch die Identifikation mit der Demokratie und den Verfassungsrechten einfacher macht. Die österreichische Verfassung ist hier doch eher unansehnlich und nicht wirklich für die Bürger:innen greifbar. Gerade in Zeiten, in denen die Demokratie an einigen Ecken abgeklopft und angezweifelt wird, wäre eine wirkliche einfache "Identifikationsmöglichkeit" mit einer Verfassungsurkunde wichtig. Im Idealfall sollten auch die Grund- und Menschenrechte klar am Anfang einer Verfassung ersichtlich sein und nicht nur einen Verweis auf die EMRK und die Aufnahme derselben in den Verfassungsrang.

Politischer und demokratischer Stillstand

Lassen Sie mich vielleicht aber auch auf ein paar meiner Ansicht nach nicht mehr zeitgemäße inhaltliche Regelungen ansprechen:

Der Nationalrat kann gemäß Art 74 des B-VG einer Regierung bzw. einem:r Minister:in das Misstrauen aussprechen, was für den:die Bundespräsidenten:in bindend ist. Dies ist in Österreich möglich, ohne gleichzeitig Nachfolger:innen zu wählen bzw. zu benennen. Dieses sogenannte destruktive Misstrauensvotum führt zu einem politischen und demokratischen Stillstand. Wie wir in der jüngeren österreichischen Geschichte gesehen haben, wird dies durch die Einsetzung einer Experten-Beamtenregierung durch den:die Bundespräsidenten:in gelöst. Ich weiß, dass nun viele Bürger:innen feststellen werden, dass diese Regierungskonstellation in dieser Phase "gar nicht so schlecht" funktioniert hat. In Wahrheit muss man aber festhalten, dass es sich hier eben um nicht gewählte Vertreter:innen handelt, ohne die übliche demokratische Legitimierung. Dementsprechend sind diese dann auch nur beschränkt handlungsfähig und ein solches System kann auch nur dann funktionieren, wenn die Bevölkerung dieses "undemokratische" Verhalten akzeptiert.

Hier müsste eine klare Änderung her, sodass ein Misstrauensvotum nur dann möglich ist, wenn gleichzeitig eine neue Person vom Nationalrat gewählt/ernannt wird. Dieses sogenannte konstruktive Misstrauensvotum ist in den meisten modernen Verfassungen, z.B. in Deutschland Art 67 des Grundgesetzes üblich.

Entgegen der Wahrnehmung hat der:die Bundeskanzler:in in Österreich eigentlich nicht mehr, vielleicht sogar weniger, Rechte als die einzelnen Bundesminister:innen. Einmal ganz davon abgesehen, dass auch jede:r Ressortchef:in mehr Budget hat. Nur so ist erklärbar, wieso Infrastrukturministerin Leonore Gewessler auf EU-Ebene unabgestimmt zum Renaturierungsgesetz stimmen konnte und der Bundeskanzler keinerlei Einwirkungsmöglichkeiten hatte. Hier wäre nur zu logisch, dass die Bundeskanzler:in eine Richtlinienkompetenz erhält. So heißt es z.B. in Deutschland nach Art 65 Grundgesetz:

"Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung. Innerhalb dieser Richtlinien leitet jeder Bundesminister seinen Geschäftsbereich selbstständig und unter eigener Verantwortung...."
Auch ein wichtiges Oppositionsrecht läuft derzeit als leere Hülle. So können Anfragen der Opposition einfach unbeantwortet bleiben. Es gibt dann keine rechtliche Möglichkeit, diese zu erzwingen, während Abgeordnete in Deutschland sehr wohl die Möglichkeit haben, dies beim Bundesverfassungsgericht durchzusetzen.

Stellung des österreichischen Verfassungsgerichtshofes

Es gibt noch viele weitere Themen, die einer genaueren Analyse und Klarstellung bedürften. Auch die Stellung des österreichischen Verfassungsgerichtshofes und dessen Verfahren gehören dazu. Etwa die Frage, warum es nicht möglich ist, in einstweiligen Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof Klärung zu erhalten. Dies führt nämlich oft dazu, dass Gesetze oder Handlungen nach Monaten oder Jahren für verfassungswidrig erklärt werden, obwohl die Folgewirkung schon lang eingetreten ist. Als ein Beispiel ist hier sicher die Coronagesetzgebung zu nennen, die bei vielen Menschen in Österreich den Glauben an Rechtsstaat und Demokratie erschüttert hat.

"Schönheit" oder "Nichtschönheit"

Ich maße mir nicht an, hier abschließend über die "Schönheit" oder "Nichtschönheit" der österreichischen Verfassung zu urteilen. Ich glaube aber, es wäre hoch an der Zeit, wenn sich der Gesetzgeber im Rahmen eines neuen Verfassungskonvents dieses Themas annimmt. Ich bin der festen Überzeugung, dass allein die Diskussion über dieses Thema und eine transparente Herangehensweise das Vertrauen in die Verfassung und damit die Demokratie stärken würden. So werden Sie mit mir Freund:in und Unterstützer:in für eine neue Verfassung.

Unsere 240-jährige Unternehmensgeschichte ist ein Beweis dafür, dass Beständigkeit und Anpassung eng miteinander verbunden sind. Genau wie unser Unternehmen sich stetig weiterentwickelt hat, braucht auch die österreichische Verfassung ein klares Fundament, das Raum für zeitgemäße Anpassungen lässt. Nur durch diese Balance zwischen Tradition und Erneuerung – sei es in einem Unternehmen oder in einem rechtlichen Rahmen – können wir die Zukunft erfolgreich gestalten und das Vertrauen in eine funktionierende Demokratie stärken.

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