In letzter Zeit kommt mir immer öfter die Forderung einzelner politischer Parteien unter, wir müssten uns um unsere Leitkultur kümmern. Gefühlsmäßig ist aber niemandem ganz klar, was Leitkultur bedeutet. Deshalb, geneigte Leser:innen, lassen sie uns wie üblich von vorne anfangen. Ende der 1990-er Jahre stieß der Politologe Bassam Tibi die Debatte an, indem er einen auf europäischen Werten basierenden gesellschaftlichen Konsens beschrieb, der als Klammer zwischen Deutschen und Migrant:innen dienen sollte. Später, in den 2000-er Jahren, wurde dieser Blickwinkel verengt und als deutsche Leitkultur, vor allem mit dem Themenkomplex der Zuwanderung bzw. der Integration von Eingewanderten, betrachtet.
"Leitkultur"
Noch etwas später begann man dann, die gleiche Idee auch in Österreich zu diskutieren, wo sie vor allem als Konzept gegen den Multikulturalismus gesehen wird. Multikulturalismus geht von einem Neben- oder Miteinander unterschiedlicher Kulturen aus, wohingegen eben die Leitkultur fordert, dass sich Migrant:innen an die Kultur vor Ort anpassen sollten. Seither wird nicht mehr nur diskutiert, sondern teilweise heftig gestritten, welche nun genau die Elemente der Leitkultur sein sollen – etwa politische, wirtschaftliche, aber auch religiöse –, die gegenüber anderen Kulturen vorrangig zu beachten sind.
Die Auseinandersetzung hat ihren Ursprung in der Behauptung vieler Parteien und Menschen, die Integration und das Wertesystem beruhe "nur" auf dem Grundgesetz und der Verfassung. Diese wiederum sehe aber eben vor allem die Gleichheit der Religions-, Meinungs- und anderer Freiheiten vor, nicht aber den Vorrang einer bestimmten anderen (Leit-)Kultur. Nun gehen aber vor allem konservative Politiker:innen von einem abendländischen Christentum mit jüdischen Wurzeln als Hintergrund der Verfassung aus, was sich folglich auf die verfassungsmäßigen Rechte auswirken müsste. Andere wiederum sehen die Basis für die Leitkultur in der Definition des Humanismus.
Über Leitkultur diskutieren
Geneigte Leser:innen, wenn Sie nun ähnlich verwirrt sind wie ich, dann ist das nicht weiter verwunderlich. Es gibt eben keine klare Definition, was bzw. wie eine Leitkultur wirklich sein soll und wie sie abgesichert werden muss. Deswegen meine ich, dass eine vertiefte Diskussion und daraus resultierende Definition dringend notwendig wäre, um die Bedeutung von Leitkultur herauszuarbeiten. Und es ist meine ganz persönliche und feste Überzeugung, dass wir nicht nur diese Diskussion brauchen, sondern dass die Bevölkerung ganz klar festlegen können soll, was darunter zu verstehen sei. Dieses gemeinsame Verständnis sollte dann aber nicht nur als Kultur "herumschwirren", sondern tatsächlich auch in verbindlichen Umsetzungen Niederschlag finden, etwa durchaus z.B. mit einem Treueschwur, nicht nur auf die Verfassung, sondern auch auf das, was wir dann als Leitkultur ansehen.
Da stellen sich dann aber größere Fragen als die, ob in Klassenzimmern Kreuze aufgehängt werden dürfen, ob muslimische Lehrer:innen und/oder Schüler:innen Kopftücher tragen dürfen, oder – brandaktuell – ob zu Beginn des Ramadan die Straßen geschmückt werden dürfen oder nicht. Auch die Forderung des Gender-Verbotes eines Herrn Söder müsste unter dem Blickwinkel einer möglichen Rückkehr in allzu patriarchale Strukturen neu beleuchtet werden. Meine persönliche Meinung zu all diesen Themen tut dabei gar nichts zur Sache, was ich damit lediglich zum Ausdruck bringen möchte ist, dass das Diskutieren über Leitkultur die Auseinandersetzung mit polarisierenden, teilweise unangenehmen Themen erforderlich macht, zu der es mehr als zwei Meinungen gibt. Und genau diesen Punkt der Leitkultur sollte man aber nicht unterschätzen. Denn wenn man sich, wie oben schon angedeutet, auf eine Leitkultur festlegt und dies auch ernst nimmt, hat es erhebliche gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Auswirkungen.
Unternehmen als Vorbilder und Impulsgeber
Wenn sich etwas im Großen schwierig präsentiert, dann macht es oft Sinn, im Kleinen nach Lösungsansätzen zu suchen. Und was die Leitkultur eines Landes im Großen ist, wäre wohl die Unternehmenskultur im Kleinen. Wie wichtig eine solche ist, weiß jede Person, die in einem Unternehmen arbeitet. Von hierarchisch-strukturiert bis freundschaftlich-jovial mit unzähligen Abstufungen dazwischen kommt in der Wirtschaft so ziemlich alles vor. Nun kann man ein Unternehmen, wenn einem die dortige Kultur nicht "in den Kram passt", relativ problemlos verlassen, beim Land ist das so eine Sache. Das macht den oben beschriebenen breiten Konsensus über die Leitkultur umso notwendiger.
Unternehmen können aber Vorbilder und Impulsgeber sein, weil sie – eben im Kleinen – die Gesellschaft abbilden. Bei JTI ist dieses Bild – nicht nur in Österreich, sondern global – ein sehr buntes, diverses und internationales. Geprägt ist es von wertschätzendem Umgang und der Akzeptanz unterschiedlichster Lebensformen. Hier wird Fremdes nicht als Bedrohung empfunden, sondern mit Interesse dem Bekannten als Ergänzung hinzugefügt und damit verknüpft. Dabei ist aber auch klar, dass sich Mitarbeiter:innen – wenn sie hier glücklich werden wollen – integrieren. Ein Unternehmen ist am Ende auch kein Flohhaufen von Menschen, die einfach tun und lassen können, was sie wollen. Trotzdem würde einer Leitkultur bzw. vor allem der Diskussion, was die Leitkultur letztlich sein soll, Offenheit, Fairness, Ehrlichkeit, Wissen und Akzeptanz guttun. Leider klingt das derzeit aber eher nach Utopie.
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