Führen in Zeiten von hoher Fluktuation und noch höheren Anforderungen an Arbeitgeber:innen ist eine Herausforderung. Darüber hinaus sind Führungskräfte derzeit mit einer Umbruchstimmung am Arbeitsmarkt konfrontiert. Laut der EY Jobstudie 2023 ist die Wechselbereitschaft heuer mit 63 Prozent aller Befragten auf einem Rekordniveau. Das Führungsverhalten der Vorgesetzten spielt für Arbeitnehmer:innen mittlerweile die zweitwichtigste Rolle. Ebenso ausschlaggebend: sinnstiftende Arbeit und gute Bezahlung. Wie man in so einem Spannungsfeld Mitarbeiter:innen führt, verrät Jürgen Hürner im LEADERSNET-Interview.
LEADERSNET: Sehr geehrter Herr Hürner, was müssen Führungskräfte von heute aus Ihrer Sicht ändern, um hohe Fluktuation in ihren Unternehmen zu verhindern?
Jürgen Hürner: Die wertvollste Eigenschaft einer Führungskraft ist Empathie. Sie muss fähig sein, eine gesunde Vertrauensbasis und ein sinnstiftendes Arbeitsumfeld zu schaffen. Intern immer klare Ziele und Werte, die im besten Fall gemeinsam im Team formuliert wurden, zu kommunizieren, ist ebenfalls wesentlich. Ziele wie Gewinnmaximierung sind dabei keine besonders motivierenden; es geht vielmehr darum, echten Mehrwert zu schaffen. Auch transparente Karrieremöglichkeiten, empathisches Führen und gegenseitiges Vertrauen statt Kontrolle – also auch Menschen etwas zuzutrauen – sind enorme Motivatoren. Das sollten Führungskräfte immer im Fokus haben.
LEADERSNET: Was denken Sie, macht die österreichische Führungskultur richtig, was macht sie falsch?
Hürner: Erfolgreiche österreichische Unternehmen schaffen es, ein gesundes Mittelmaß zwischen deutscher Struktur, mit all ihrer Prozesstreue, mit südländischer Leichtigkeit, wie dem Spielraum bei der Ausführung von Aufgaben und doch flexibleren Zeitplänen, zu verbinden. Eine "schau ma mal"-Kultur, wenn man so will. Das gibt es nur bei uns in Österreich. Das heißt so viel wie: Uns sind Qualität und Effizienz zwar wichtig, lassen aber noch den nötigen Freiraum, um Lösungen auch später zu finden und agil zu handeln. Diese "Hausverstand-Einstellung", wie ich sie nenne, findet sich grundsätzlich in den meisten erfolgreichen österreichischen Unternehmen und auch deren Führungskultur wieder. Weniger erfolgreiche, beziehungsweise wenig zukunftsgerichtete Unternehmen sind von einer Führungskultur geprägt, die weder richtig kommuniziert noch eine klare Vision oder Strategie vorgibt und auf das Hierarchiedenken zu viel Wert legt. Diese Sie- und Titel-Kultur und auch Micromanagement schränken die Zukunftsfähigkeit dieser Unternehmen mehr ein, als ihnen bewusst ist.
LEADERSNET: Leadership ist Beziehungsarbeit – denken Sie, verstehen Führungskräfte ihre Rolle richtig?
Hürner: Um Menschen "führen" zu können, ist es zuerst nötig, mit sich selbst in Beziehung zu treten, danach erst mit der Umgebung. Wer das versteht, merkt, wie hochkomplex und einzigartig zwischenmenschliche Beziehungen sein können und dass es auch keine Standard-Regeln fürs Führen gibt. Führen, oder in gewissen Teilen auch Coachen, ist eine individuelle Angelegenheit und Situationen entwickeln sich meist anders als eigentlich gedacht. Dabei ist es wichtig, den Menschen wirklich zuzuhören, sich hineinzufühlen, Vertrauen aufzubauen und ein gemeinsames Ziel, sei es die persönliche Entwicklung oder ein Unternehmens- beziehungsweise Projektziel, zu entwickeln. Die Bezahlung spielt zwar auch immer eine wichtige Rolle für Arbeitnehmer:innnen, empathische Führungskräfte werden in Zukunft aber den Ton angeben. Empathische Führung braucht aber Zeit, Geduld und ein hohes Maß an Empathie. Das bedeutet in weiterer Folge, dass Ergebnisse, seien es wirtschaftliche, subjektive oder in technischen Kennzahlen messbare, nicht sofort eintreten. Das muss bewusst sein. Es gibt immer noch Märkte oder Eigentümer:innen, die schnelle Ergebnisse fordern - folglich kann empathische Führungskultur nur nachhaltig etabliert werden, wenn auch die geschäftsleitende Ebene Führung neu denkt.
LEADERSNET: Die Energiewirtschaft ist sowas wie ein Sonderfall: Die Branche gehört zu den bestbezahlten, trotzdem ist die Verbundenheit erstaunlich niedrig. Schreit gerade die Energiewirtschaft nach neuen Führungseigenschaften?
Hürner: Aufgrund der oft Jahrzehnte langen Historie der verschiedenen Energieversorger sind Prozesse und Strukturen noch von einer Zeit des Verwaltens geprägt. Verwaltung bedeutet in vielen Fällen wenig Spielraum für Neues oder Innovationen. Ein Blick auf die Maslow-Pyramide zeigt aber, dass Menschen grundsätzlich nach Selbstverwirklichung und sinnhaftem Arbeiten streben. Laut Studien geben besonders Frauen an, Sinn im Job zu suchen. Genau hier ist definitiv Potenzial für Verbesserungen. Es zeigt sich auch, dass transparente Karrieremöglichkeiten essenziell für eine langfristige Zufriedenheit im Job sind. Auch hier herrscht in manchen Bereichen der Energiewirtschaft Aufholbedarf. Der langfristige Vorteil der Branche: Faire Gehälter und kompetente Führungskräfte werden in 15 Jahren der Standard sein – in Zukunft attraktive Arbeitgeber werden aber Unternehmen sein, die Sinn stiften.
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