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Nachdem es in der vergangenen Woche um Luxus gegangen ist, geht es bei diesem Beitrag um Renaturierung. Durch die Industrialisierung sind Ökosysteme aus dem Gleichgewicht geraten, Renaturierung ist eine Gegenmaßnahme, sie wieder in Balance zu bringen – und ein effektives Mittel zum Klimaschutz.
Text: Karin Pollack
Es ist ein Dilemma, das sich angesichts der Klimakrise überall auf der Welt auftut. Zum einen brauchen die Menschen im 21. Jahrhundert Energie für Maschinen, sie benötigen Lebensraum, auf dem sie wohnen und arbeiten können und Flächen für den Anbau von Nahrung, doch andererseits zeigen die Umweltkatastrophen der letzten Jahre, dass dafür das Wohl des Planeten aufs Spiel gesetzt wurde. Bei der Energiegewinnung aus fossilen Brennstoffen entsteht CO₂, das die Atmosphäre vergiftet, die Böden sind durch intensive Nutzung beeinträchtigt und beim Siedlungs- und Straßenbau wurden natürliche Ökosysteme zerstört. Wohlstand nennen es die einen, Raubbau an der Natur die anderen.
Ausgelaugte Systeme
Eine EU-weite Erhebung hat ergeben, dass 80 Prozent der Lebensräume in Europa in keinem guten Zustand sind. Das zeigt sich an Flora und Fauna. Zwei Drittel der geschützten Arten sind weltweit in Gefahr. Und auch wenn der Mensch sich ungern als Teil dieses großen Ganzen begreift, ist er doch massiv betroffen. Industrialisierung erfordert Naturverbrauch, und das wiederum heißt: geschädigte Ökosysteme. Was bisher als selbstverständlich galt, kann die Natur bald nicht mehr liefern, also Energie, Hochwasserschutz, Trinkwasser und Erholungsräume. Woran das schon heute deutlich ersichtlich wird, sind die immer häufiger werdenden Naturkatastrophen: im Sommer Dürren und Waldbrände, im Herbst und Winter Stürme und Starkregenfälle.
Kostet Milliarden
Eindrücklich zeigten sich die Konsequenzen des Klimawandels vergangenen September 2024 in Niederösterreich. Es waren die regulierten Donauzuflüsse, die verbauten Überflutungsgebiete und die ausgetrockneten Böden, die die Wassermassen nicht mehr aufnehmen konnten. Das Hochwasser verursachte Schäden von 1,3 Milliarden Euro, errechneten Wifo-Wirtschaftsforscher:innen, 700 Millionen davon in privaten Haushalten. Einer der Verursacher ist der Mensch selbst, der das natürliche Regulierungssystem zerstört hat und nun mit den Konsequenzen fertig werden muss. Was also tun? "Ökosysteme sind die Immunsysteme unserer Gesellschaft", sagt Rafaela Schinegger, Assistenz-Professorin für Naturschutzplanung an der Universität für Bodenkultur in Wien. Ihre gute Nachricht: "Renaturierungsmaßnahmen wären so etwas wie die medikamentöse Therapie für die Erneuerung natürlicher Lebensräume."
Zurück zur Natur
Für alle, die nicht so genau wissen, was Renaturierung eigentlich beinhaltet: Laut Definition der Naturschutzorganisation WWF ist Renaturierung die aktive Wiederherstellung eines möglichst naturnahen Zustandes von Landschaften, die der Mensch für wirtschaftliche Nutzung im letzten Jahrhundert verändert hat. Naturverbrauch im Zuge der Industrialisierung, nennen es Umweltschützer:innen und mahnen seit Jahren vor dem großen Artensterben, das durch die Vernichtung von Lebensräumen automatisch damit einhergeht.
»Renaturierung wäre so etwas wie die Therapie für die Erneuerung natürlicher Lebensräume.« Rafaela Schinegger, Universität für Bodenkultur, Wien
"Renaturierung nutzt auch der Wiederherstellung der Biodiversität", fügt Schinegger hinzu und fordert, dass diese beiden für die Menschen überlebenswichtigen Faktoren von politisch Verantwortlichen stets gemeinsam betrachtet werden. Das ist bis dato nicht der Fall. Ihr deutscher Kollege Josef Settele, Leiter des Departments für Naturschutzforschung am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Halle, gießt die Dramatik in Zahlen: "Jeden Tag sterben auf unserem Planeten 150 Arten von Tieren und Pflanzen aus", mahnt er. Das gefährdet die Bestäubung von Pflanzen, den Schädlingsschutz und die Nahrungsketten. Arten- und Klimaschutz müsse deshalb nicht nur regional, sondern auch global zum Anliegen der Politik werden.
Umwelt auf Reha
Was also konkret tun? Renaturierung bedeutet, Flüsse, Wälder und Wiesen wieder in einen naturnahen Zustand zurückzubringen. Damit sie ihre Funktion unter anderem als CO₂-Speicher wieder erfüllen können. Moore spielen dabei eine Schlüsselrolle, denn sie nehmen schädliches Kohlendioxid wie einen Schwamm auf und speichern es als Torf im Boden. Plus: Moore sind Lebensraum für viele Tier- und Pflanzenarten. Das heißt, sie waren es, denn in Österreich wurden 90 Prozent aller Moore trockengelegt. Eine Wiedervernässung wäre, das zeigen wissenschaftliche Daten, eine wirkungsvolle Maßnahme gegen den Klimawandel.
© Petra Holländer/ wwf.at
Eine zweite große Säule ist die Renaturierung der Wälder. Die Forstwirtschaft setzte im Zuge der extensiven wirtschaftlichen Nutzung in den vergangenen Jahrzehnten auf Fichten in Monokulturen, wodurch der ursprüngliche Mischwald Mitteleuropas sehr stark zurückgedrängt wurde. Weil besonders die Fichte unter der Wasserknappheit leidet und die Bäume deshalb vom Borkenkäfer befallen werden, hat die Forstwirtschaft große Verluste zu verzeichnen. Als Gegenstrategie werden wieder vermehrt Mischwälder angepflanzt, weil sie resistenter sind und ihre Rolle, Kohlenstoff in Holz und Boden zu binden, stabiler wahrnehmen können.
Schöner neuer Fluss
Eine dritte Säule der Renaturierung betrifft Fluss- und Auensysteme. Im Durchschnitt kann jeder Fluss oder Bach in Österreich nur 900 Meter frei fließen, 83 Prozent aller Flüsse in Österreich sind verbaut. Das bedeutet, dass sie durch Barrieren wie Wehre, Regulierungsbecken oder Staumauern zerschnitten werden. Das ist ein Problem für viele heimische Fischpopulationen, die dadurch an ihrer natürlichen Wanderung gehindert werden. Viele Fische in der Donau sind damit schon nahezu ausgestorben, so etwa der Huchen. Nur 14 Prozent der österreichischen Flüsse gelten deshalb als ökologisch intakt. Neubelebung in diesem Kontext bedeutet, künstliche Barrieren zu entfernen. Der Knackpunkt: Wir brauchen Wasserkraft als saubere Energie. Deshalb haben Kraftwerksbetreiber vollkommen neue Konzepte entwickelt.
Ein Vorzeigeprojekt ist die von der Verbund AG realisierte Fischwanderhilfe in Altenwörth im Rahmen des von der EU geförderten Projekts "Life Network Danube". Die Idee: Parallel zur aufgestauten Donau wurden kleine fließende Seitenarme für die Fischwanderung geschaffen – mit Sandbänken, Kiesufern und Totholz, um auch Laichplätze zu ermöglichen. Zwei Jahre nach Eröffnung kann der Ökologe Martin Mühlbauer sagen, dass "die Fischwanderhilfe angenommen wird. Von der ökologischen Funktion her ist uns in Altenwörth ein Meisterstück gelungen", meint er und hofft auf möglichst viele Nachahmer:innen. In Österreich gibt es viel Potenzial: Von 12.000 Kilometern Flüssen, die in einer Studie des WWF analysiert wurden, könnte etwa bei rund 1.000 Kilometern eine Renaturierung relativ leicht umgesetzt werden, etwa in der Steiermark, Tirol und in Niederösterreich.
Ist und Soll. Durch die Industrialisierung haben Ökosysteme ihre natürliche Regulierungskraft verloren. Renaturierung verhindert Umweltkatastrophen wie Hochwasser und Artensterben. © Petra Holländer/ wwf.at
Anders denken
Damit aus einzelnen Projekten großflächige Veränderungen werden, hat die Europäische Union im Juni 2024 das "Nature Restoration Law" auf den Weg gebracht. Österreichs Umweltministerin Leonore Gewessler gab die entscheidende Stimme – trotz des massiven Widerstands durch die Landeshauptleute. Zu den stärksten Gegnern von Renaturierung gehören Agrarlobbys, Bau- und Infrastrukturunternehmen sowie einige Vertreter:innen der Energiewirtschaft. Diese Gruppen fürchten Einschränkungen bei landwirtschaftlicher Nutzung auf rückgeführten Flächen und eine geringe Nutzbarkeit durch veränderte Flussläufe.
"Dabei sind doch gerade die Landnutzer:innen auf intakte Ökosysteme angewiesen, Renaturierung ist doch so etwas wie ihre Lebensgrundlage", gibt Landschaftsökologin Rafaela Schinegger zu bedenken, räumt aber ein, dass Renaturierung in vielen Fällen im Widerspruch zum derzeitigen Wirtschaftssystem steht. "Wenn Flächen als Produktionsressource betrachtet werden und es um kurzfristige Gewinne geht, ist Renaturierung ein Hindernis."
Gemeinsam statt gegeneinander
Deshalb fordert Schinegger stellvertretend für viele eine langfristige Planung unter Einbeziehung vieler unterschiedlicher Institutionen. Diese Koordinationsstelle sollte Land- und Forstwirtschaft, Wasserwirtschaft, Raumordnung und Naturschutz auf Bundes-, Landes- und sogar Gemeindeebene an einen Tisch bringen und Projekte koordinieren. Bislang ist das Gegenteil der Fall: Viele dieser Institutionen arbeiten heute gegeneinander und treiben damit den Klimawandel an.
Wie eine Zukunft im Sinne der Wiederherstellung natürlicher Ökosysteme aussehen könnte, kann Schinegger ebenfalls beantworten. "Langfristig betrachtet ist eine intakte Natur eine Grundvoraussetzung für sämtliche menschliche Aktivitäten", gibt sie zu bedenken und sieht in der regionalen Lebensmittelproduktion und im Ökotourismus große Chancen. Zudem gäbe es Möglichkeiten für die Industrie, ihren Naturverbrauch durch CO₂-Zertifikate und Biodiversitätsprojekte zu kompensieren. Das wäre ein Ausweg aus dem Dilemma, das eine vollkommen neue Dynamik auf dem Planeten ins Rollen brächte –
Mehr zum Thema Nachhaltigkeit finden Sie im neuen Nachhaltigkeits-Businessmagazin aehre auf www.aehre.media und in der neuen Ausgabe.
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