LEADERSNET: Sehr geehrter Herr Bonin, erzählen Sie Ihren Hintergrund. Wie sind Sie aufgewachsen? Wie haben Ihre Kindheit und Ihr Aufwachsen Ihren Weg als führender Ökonom unseres Landes beeinflusst?
Holger Bonin: Ich bin in sehr schlichten Verhältnissen aufgewachsen. Bücher waren kein Thema in meiner Familie, aber früh hatte ich selbst Interesse daran und fand mich dann oft in jungen Jahren in Bibliotheken wieder. Auf die Idee, ein Buch zu kaufen, wären meine Eltern nicht gekommen – man kann es sich schließlich auch leihen. Ich erinnere mich noch an die Debatte am Küchentisch: "Wofür willst du das Abitur machen?". Ich war dann in der Studienstiftung des deutschen Volkes, die sich für begabte Menschen einsetzt – aber erst dann im Studium. Ich schaute immer nach vorne und möchte nun das Institut für Höhere Studien (IHS) und Österreich voranbringen. Die Arbeitsstunden sind lang, oft bis 3 Uhr früh. Das Alter lässt es leider nicht mehr zu, wie früher ganze Nächte durchzuarbeiten, aber ich tue das, was ich liebe, und mache meine Arbeit aus Leidenschaft. Ich schätze Österreich und Wien sehr, die hohe Lebensqualität und abends schaue ich manchmal gerne zum Heurigen. Sicherlich ist die Entfernung zu Deutschland da, aber mein Mann und ich führen eine Fernbeziehung und können beide damit sehr gut leben.
LEADERSNET: Öterreichs BIP pro Kopf lag 2023 unter dem Niveau von 2018 und auch die hohe Inflation belastet viele Österreicher:innen. Wo sehen Sie den größten Handlungsbedarf in Europa und Österreich?
Bonin: Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf ist nicht der beste Wohlstandsindikator. Dies gerade deshalb, da wir gerade eine Situation vorfinden, in der wir eine Zuwanderung von Geflüchteten haben, derzeit aus der Ukraine, die keinen Zugang zum Arbeitsmarkt haben. Ich will damit nicht sagen, dass die Situation rosig ist. Ich sage nur, wir müssen immer auch die Verteilungsperspektiven im Blick haben. Es hat tatsächlich reale Einkommensverluste gegeben, also betrachten wir die Ebene der individuellen Einkommen. Wir müssen auch berücksichtigen, welche großen Krisen wir durchgemacht haben. Wir hatten und haben Kriege, eine Pandemie, eine Inflationskrise und eine Energiepreiskrise. All dies zeigt, wie groß die Selbstheilungskräfte der österreichischen Wirtschaft sind. Dennoch steigt die Arbeitslosigkeit leicht an, die Beschäftigung wächst weiter und bleibt erstaunlich stabil. Trotzdem sehe ich Handlungsbedarf, der sich weniger auf die konjunkturelle Lage, sondern mehr auf die strukturelle bezieht, also auf das langfristige Wachstumspotenzial. Über 1,5 Prozent BIP-Wachstum kommen wir nicht hinaus – das gilt für 2025 und die Jahre danach.
LEADERSNET: Eines der drängendsten Probleme der westlichen, entwickelten Welt ist, dass wir nicht genug nachhaltiges, wirtschaftliches Wachstum haben. Das gefährdet auch Frieden, Freiheit und Wohlstand. Können neue Technologien wie Künstliche Intelligenz, die fehlende Produktivität der letzten Dekaden zurückbringen? Was sind mögliche Lösungsansätze und woher soll das Wachstum in den kommenden Jahren kommen?
Bonin: Die aufgezeigten Problematiken resultieren aus der Tatsache, dass aufgrund demografischer Entwicklungen weniger Arbeitskräfte verfügbar sein werden. Das Wachstumspotenzial wird daher geringer sein – anders als in Regionen rund um Südasien. Hinzu kommt, dass wir in Europa in technologischen Bereichen – wie von Ihnen angesprochen, der künstlichen Intelligenz – nicht an der Spitze stehen. Es gilt jedoch ebenso anzumerken, dass die Hoffnung, immense Produktivitätssteigerungen durch diese neuen Technologien zu erzielen, sich in den letzten Jahren nicht so stark realisiert hat, wie wir ursprünglich dachten. Technologie wird uns sicherlich helfen, weitere Produktivitätsfortschritte zu erzielen. Wir werden technologieinduzierte Produktivitätsfortschritte vor allem deshalb sehen, weil wir altern. Engpässe führen zu einer beschleunigten Anpassung von technologischem Fortschritt. Ich erhalte also Produktivitätsfortschritte, indem ich die fehlenden Menschen durch Technologie ersetze oder weniger vorhandene Menschen durch Technologie produktiver mache.
LEADERSNET: Im Hinblick auf den Erhalt der Kaufkraft steht Österreich im internationalen Vergleich besser da als viele andere Länder. Dennoch können sich immer mehr Menschen in Österreich das Leben nicht mehr leisten. Die aktuellen Konjunkturentwicklungen zeigen, dass sich Länder wie Spanien besser als Österreich entwickeln konnten. Wie kommt es zu diesen Unterschieden?
Bonin: Exportorientierte und energieintensive Unternehmen wurden aufgrund verschiedener Abhängigkeiten in Österreich stark getroffen. Ebenso beobachten wir, dass der Energiepreisschock in jenen Ländern besonders hoch ist, die stark vom russischen Gas abhängig waren. Hinzu kommt, dass in Österreich viele Dinge indexgebunden sind. Denken wir hier an Energie, Mieten und Versicherungen. Ein anderer häufig vergessener Punkt: Die Marktkonzentration im Einzelhandel ist in Österreich sehr stark ausgeprägt, und im europaweiten Vergleich sind die Preise hierzulande höher als in anderen Ländern. Man muss jedoch gleichzeitig sagen, dass hier beide Seiten steuern: sowohl Konsumenten als auch Unternehmen. Deutschland hat sich stärker diversifiziert, und es war auch von den Ausgangsvoraussetzungen etwas einfacher sowie weniger stark vom russischen Gas abhängig. Den Deutschen geht es im Moment konjunkturell noch schlechter als den Österreichern – aber das hat andere Gründe. Das liegt nicht an Energiepreisschocks, sondern an der mangelnden Digitalisierung, Infrastrukturproblemen und der überbordenden Bürokratie.
LEADERSNET: Derzeit geht die Inflation verlässlich zurück. Viele Marktteilnehmer gehen von Zinssenkungen aus. Wie sehen Sie die diesjährige Entwicklung und mit welcher Politik rechnen Sie in den kommenden drei bis fünf Jahren?
Bonin: Unsere Prognose geht davon aus, dass die Zinsen in der zweiten Jahreshälfte fallen werden. Die Zinserhöhungen haben das getan, was sie tun sollten – die Konjunktur und damit auch die Preisentwicklung gedämpft. Insofern sind wir nach wie vor optimistisch, dass die Zinsen runterkommen werden. Wenngleich vieles stark davon abhängen wird, wie es jetzt mit den Unsicherheiten der Weltwirtschaft weitergeht. Die Zinsen werden nicht wieder gegen Null fahren. Die Entwicklung über die nächsten drei bis fünf Jahre, zeigen in Richtung zwei Prozent. Die Zinskurven und Futures deuten auf diese Entwicklungen ebenso hin.
LEADERSNET: Im aktuellen Sozialbericht empfehlen zwei Ökonomen der Nationalbank die Einführung der Besteuerung der Bodenrente, eine Erbschaftssteuer und eine Vermögenssteuer. Schließen Sie sich dieser Empfehlung an?
Bonin: Ich kenne den Bericht und dieser wurde auch mit mir diskutiert. Der Bericht ist nicht "lupenrein", bietet jedoch Ansatzpunkte für mögliche Reformen. Die Steuerlast ist in Österreich im europaweiten Vergleich in Relation zum BIP im oberen Drittel angesiedelt. Das bedeutet, ein ganzes Bündel an neuerlichen Steuern würde die Abgabenlast noch weiter verschärfen. Reformbedarf sehe ich im Hinblick auf die Einführung einer möglichen Erbschaftssteuer.
LEADERSNET: Hohe Inflation, steigende Lebenshaltungskosten, Herausforderungen im Bildungssystem, die Klimaproblematik, etc. belasten aktuell die Bevölkerung. Viele Österreicher:innen fragen sich, ob die Politik den Willen besitzt, diese Probleme anzugehen. Nicht zuletzt deshalb ist in den letzten Jahren auch weltweit einen Anstieg des Populismus und extremistischer Ideologien zu beobachten. Wie können demokratische Gesellschaften solche Herausforderungen bewältigen, um nicht ihre Freiheit einzuschränken?
Bonin: Natürlich hat das Vertrauen in Institutionen und in die Politik über die letzten Jahre gelitten. Weltweit sind populistische Strömungen zu beobachten, was auch der Tatsache geschuldet ist, dass Verunsicherung in der "Mitte" unserer Gesellschaft herrscht. Dies wird durch technologische Neuerungen vorangetrieben und von der mangelnden Bereitschaft, sich solidarisch zu zeigen. Das Herabsetzen der Sozialleistungen für Flüchtlinge (unter anderem in Dänemark) bringt dies zum Ausdruck. Ich halte dies für eine falsche Entwicklung. Wir haben eine verstärkte Hinwendung zum "Ich". Soziale Medien spielen hier eine große Rolle. Das Reden über Krisen und negative Nachrichten verbreitet sich schneller in sozialen Netzwerken als positive Nachrichten. Hinzu kommt, dass soziale Medien über die inhärente Eigenschaft verfügen, innerhalb weniger Sekunden weltweit zu agieren und jeden erreichen zu können. Ein Faktor der Digitalisierung ist, dass wir globale Regeln nicht oder nur schwerer durchsetzen oder schaffen können.
LEADERSNET: Sie gelten als führender Ökonom unseres Landes und stehen an der Spitze eines renommierten Institutes. Was ist der beste Ratschlag, den Sie für Ihre berufliche Laufbahn und Ihr Leben je erhalten haben? Was ist die wichtigste Lektion, die Sie aus all dem gelernt haben? Was würden Sie Ihrem jüngeren Ich raten?
Bonin: Neugierig bleiben, mobil bleiben und Herausforderungen suchen. Nicht mit dem zufrieden sein, was man bereits erreicht hat. Zusätzlich sollte man wirklich gut in etwas sein. Ich meine damit, dass Spezialistentum extrem hilfreich sein kann. Wir neigen gerne dazu, Generalisten zu sein. Ich denke, dass das Expertentum in vielen Bereichen nach wie vor einen Wert hat. Ich muss einen Bereich haben, in dem ich richtig gut bin – so gut wie möglichst wenige andere. Wir merken, dass sich junge Leute zunehmend nicht festlegen wollen und dann vieles ein bisschen können... Das kann dann zu wenig sein.
www.ihs.ac.at
Kommentar schreiben