Der Weg zur "best available technology"

Warum Standards eine unsichtbare Kraft sind, erzählen Valerie Höllinger, CEO von Austrian Standards, und Brigitte Bach, Vorständin der Salzburg AG, im LEADERSNET Interview.

LEADERSNET: Frau Höllinger und Frau Bach, beginnen wir mit einem visionären Blick in die Zukunft: Wie sollen sich Ihre Unternehmen in den nächsten Jahren weiterentwickeln?

Höllinger: Austrian Standards ist quasi ein Thinktank, der das Schwarmwissen managt und somit die Entstehung sowie Veröffentlichung der Standards in Österreich. Wir setzen seit über 100 Jahren auf Schwarmintelligenz, lange bevor dieser Begriff allgemein bekannt war. Unter dem Motto "Sharing is caring" arbeiten wir allein in Österreich mit rund 4.450 Fachleuten aus ca. 2.200 nominierenden Organisationen zusammen. Für die Zukunft heißt das, dass wir uns noch stärker als Vernetzungsplattform positionieren wollen.

Denn nirgendwo sonst kommen Akteur:innen aus so unterschiedlichen Bereichen und Themengebieten an einen Tisch, um gemeinsam auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene an der Lösung von Problemen zu arbeiten. Diese Diversität ist einzigartig und kann keine andere Plattform in Österreich bieten.

Digitalisierung und Automatisierung haben auch auf unsere Arbeitsweise sowie unsere Produkte und Services großen Einfluss. So sind wir in der Standardisierung gefordert, schneller, moderner und benutzerfreundlicher zu werden. Wir sehen den steigenden Bedarf an ausgewählten, auf einen bestimmten Produktions- oder Planungsschritt bezogene Anwendungen. Statt ganze Standards als Dokumente zu erwerben, soll es künftig auch möglich sein, nur einzelne Passagen bzw. Datenstücke zu kaufen. Das ermöglicht es Anwender:innen von Standards, Inhalte bedarfsorientiert einzusetzen und gleichzeitig Kosten und Zeit einzusparen.

Bach: Die Salzburg AG kümmert sich um Energie, Verkehr und Telekommunikation. Wir möchten das führende Green-Tech-Unternehmen in Österreich werden. Deshalb steht die Nachhaltigkeit bei uns an erster Stelle. Gerade im Zuge der turbulenten Zeiten zeigt sich, wie wichtig die Diversifizierung, Versorgungssicherheit und Preisstabilität ist.  

Wir investieren in moderne Technologien zur Energiegewinnung – wie Photovoltaik, Kleinwasserkraft oder Windkraft – und wollen mit digitalisierten Lösungen weiter wachsen. So planen wir gerade die Errichtung von bis zu zwei Elektrolyseuren im Bundesland Salzburg zur Wasserstoffgewinnung.

LEADERSNET: Das klingt nach ambitionierten Zielen. Wie helfen Ihnen Standards auf diesem Weg?

Bach: Konkret bei den Kraftwerken helfen uns Standards, einen sicheren und effizienten Betrieb auf die Beine zu stellen. Ansonsten gibt es eine Vielzahl von wichtigen Standards in fast allen Arbeitsbereichen. Im Bereich der Informationssicherheit ist es z.B. die ISO 27001, mit der wir die IT-Risiken minimieren. Einige Standards nutzen wir auch strategisch, wie z.B. ISO 14001 für das Umweltmanagement. Damit möchten wir unser ECO-Preneurshiping steigern.

LEADERSNET: Frau Höllinger, die Salzburg AG hat als österreichischer Leitbetrieb mehr als 2.000 Mitarbeiter:innen. Haben größere Unternehmen in der Standardisierung mehr zu sagen?

Höllinger: Das Besondere an der Standardisierung ist und bleibt, dass sie zugänglich für alle ist und alle gehört werden. Unsere Türen stehen allen offen, die die Standards von morgen und Innovationen mitzugestalten wollen. Als nationale Standardisierungsorganisation ist es unsere Aufgabe, einen ausgewogenen, gleichberechtigten, transparenten und neutralen Standardisierungsprozess zu sichern. Jede Stimme wiegt gleich viel – egal, wie groß die Organisation ist, und egal, ob es sich um einen Konzern, ein Startup, ein KMU oder eine Verwaltungsbehörde handelt. Jede und jeder kann gleichberechtigt mitgestalten.

Dennoch bin ich mir sehr wohl bewusst, dass es für KMUs organisatorisch aufwendiger ist, an der Standardisierung aktiv teilzunehmen, als für Organisationen mit vielen Mitarbeitenden. Denn finanzielle, personelle oder zeitliche Engpässe treten in Organisationen mit wenigen Angestellten häufiger auf. Daher sind wir bemüht, einen möglichst niederschwelligen Zugang zu ermöglichen. Gleichzeitig arbeiten wir daran, dass das Engagement in der Standardisierung mehr Anerkennung von der Wirtschaft, Politik und Gesellschaft erhält.

Bach: Natürlich gibt es bei einem großen Konzern ein unterschiedliches Involvement in der Standardisierung. Wir bei der Salzburg AG haben eine eigene Stabsstelle auf Konzernebene geschaffen – Safety, Environmental & Quality Management.

Das hilft uns, die Anwendung von Standards und zertifizierte Managementsysteme im Konzern zu koordinieren. Wir möchten die "Good Practices", die Standards enthalten, in hochqualitative Produkte und Dienstleistungen transferieren.

Ich bin überzeugt davon, dass Standards auch eine Sache des oberen Managements sind. Es braucht Commitment auf allen Ebenen. Standards können ein unsichtbares Koordinatensystem und eine unsichtbare Kraft sein. Wo es sinnvoll ist, wirken unsere Fachleute in den Standardisierungskomitees aktiv mit und sind somit von Beginn an am Know-how-Prozess beteiligt.

LEADERSNET: Da würde uns interessieren: Wo liegen momentan die Schwerpunkte bei der Entwicklung von Standards?

Bach: Wir haben keine festgelegten Schwerpunkte. Die aktuellen Marktentwicklungen definieren die Schwerpunkte: alternative Energiequellen, Sustainability, IT-Sicherheit und dgl.

LEADERSNET: Was beschäftigt die Standardisierung generell in Österreich und Europa?

Höllinger: Wussten Sie, dass 93 Prozent der Standards europäischen oder internationalen Ursprungs sind? Unser Handeln geschieht dementsprechend immer mit Blick auf die europäischen und internationalen Agenden, um Österreich mit starker Stimme zu vertreten. Gerade China hat erkannt: Wer den Standard hat, hat den Markt. Daher gewinnen asiatische Länder immer mehr an Einfluss in der Standardisierung, indem sie vermehrt die Vorsitze in internationalen Gremien übernehmen. Damit Europa nicht ins Hintertreffen gerät, müssen wir unsere Präsenz in der internationalen Standardisierung ausbauen. Das kann aber nur gelingen, wenn wir mehr Expert:innen für die Standardisierungsarbeit gewinnen. Denn laut EU-Standardisierungsstrategie fehlen 100.000 Expert:innen in Europa bis 2030.

Die Standardisierung muss zudem weiblicher werden. Das betrifft sowohl die Zusammensetzung der Komitees in der aktiven Standardisierungsarbeit als auch die Standards selbst. Denn: In der Vergangenheit wurden Standards häufig von Männern gemacht, die wiederum das männliche Geschlecht als Maßeinheit hatten. Nehmen wir beispielsweise Crashtest-Dummies, die männliche Merkmale hinsichtlich Gewichts, Größe und Körperbaus aufweisen. Frauen hingegen sind häufig kleiner und haben andere Proportionen. Aber auch das gehört berücksichtigt. Gleiches gilt für Schutzausrüstung wie Helme oder Schuhe. 

Uns beschäftigen natürlich auch aktuelle Themen wie z.B. erneuerbare Energien, Künstliche Intelligenz oder Smart Cities. Denn diese Bereiche sind auf neue internationale und europäische Standards angewiesen.

LEADERSNET: Frau Bach, wie würden Sie den Wert eines Standards beschreiben?

Bach: Ich würde einen Standard mit "good practice" zusammenfassen. Er ist als Ergebnis eine Empfehlung, wie unterschiedliche Fachleute aus der Branche typischerweise eine bestimmte Herausforderung lösen würden. Sie sollen hohe Qualität und Sicherheit schaffen – für die "best available technology".

Wir setzen Standards ein, um das Rad nicht nochmal neu zu erfinden, eine gemeinsame Sprache zu sprechen und Interoperabilität zu schaffen. Davon profitieren unsere Mitarbeiter:innen, sie haben Orientierung. Davon profitieren unsere Kund:innen, sie bekommen praxistaugliche Lösungen. Davon profitiert unser Unternehmen, wir werden fokussierter, schneller und resilienter.

LEADERSNET: Vor ein paar Monaten wurde die EU-Standardisierungsstrategie veröffentlicht. Was sind die Ziele dahinter und was bedeutet sie für Österreich?

Höllinger: Die EU-Standardisierungsstrategie ist eine Reaktion auf die aktuellen Herausforderungen. Sie soll dabei helfen, Europa zukunftsfit zu machen und hebt die Rolle der Standardisierung im Wettlauf um die wirtschaftliche Dominanz hervor. Sie hat den Anspruch, gesellschaftliche Herausforderungen wie die Klimakrise und Digitalisierung zu bewältigen. Dafür wurden fünf Maßnahmenbündel erarbeitet, die unter anderem von Österreich unterstützt und mitgetragen werden.

LEADERSNET: Wenn wir an resiliente, grüne und digitale Binnenmärkte denken: Gibt es ein Beispiel der Salzburg AG, wo Standards schon dabei unterstützt haben?

Bach: Klar – bei der Digitalisierung denke ich vor allem an die Informationssicherheit. Bevor es Branchenstandards gab, waren wir auf uns allein gestellt, Lösungsansätze für das Management von IT-Security zu finden.

Dank der grenzüberschreitenden Standardisierung können alle von der Erfahrung zahlreicher anderer Unternehmen profitieren. Für Telekomprodukte ist bei uns vor allem die Internet Engineering Task Force (IETF) relevant. Bei fast allen Produkten ist Kommunikation ein integraler Bestandteil. Es hilft enorm, dass wir verschiedenste Protokolle standardisiert haben.

LEADERSNET: Gerade wenn neue Technologien auf den Markt kommen, braucht es Akzeptanz. Wie werden Innovationen durch Standards empowert?

Höllinger: Unsere "Living Standards Award"-Preisträger:innen machen es vor: Sie zeigen, dass Standards und Innovation Hand in Hand gehen. Mit dem Award zeichnen wir Organisationen aus, die die Entwicklung und Anwendung von Standards bei innovativen Technologien nutzen.

So wurde die CNSystems Medizintechnik für die maßgebliche Mitentwicklung des internationalen Standards ISO 81060-3 "Continuous non-invasive sphygmomanometers" im Rahmen einer kontinuierlichen und nicht-invasiven Messung des Blutdrucks ausgezeichnet.

Auch Viewpointsystem aus Wien bietet mit Digital Iris Inside – einer All-in-One-Modulserie – erstmals eine standardisierte und sofort einsatzbereite Eye-Tracking-Technologie, die nahezu unsichtbar in bestehende Virtual- und Augmented-Reality-Brillen integriert werden kann. Dadurch eröffnen sich neue, intuitive und nutzerfreundlichere Steuerungsformen für Smart Glasses. Basis für die Entwicklung waren eine Vielzahl von Sicherheitsstandards, darunter die EN 166 für den Augenschutz und die IEC 62471 zum Schutz vor LED-Licht im Augenbereich.

LEADERSNET: Frau Bach, und wie empowern Sie Ihre Mitarbeiter:innen?

Bach: Empowerment braucht Vertrauen, Führungskräfte müssen das in ihren Teams leben. Und je nach Aufgabengebiet sind unterschiedliche Führungskompetenzen gefragt. Ein neues Geschäftsfeld braucht zum Beispiel einen transformativen Managementstil.

Diversität braucht es überall. Sie entsteht nicht von allein, sondern muss aktiv gefördert werden. Deshalb schulen wir unsere Führungskräfte im Bereich "Inclusive Leadership". Ich persönlich achte auf einen visionären und inklusiven Führungsstil.

LEADERSNET: Frau Höllinger, abschließend: Welche Rolle sollte Österreich in der europäischen und internationalen Standardisierung spielen?

Höllinger: Es ist unerlässlich, dass die Stimme österreichischer Unternehmen und Organisationen auch am internationalen Parkett gehört und beachtet wird. Denn nur so bleiben wir markt- und konkurrenzfähig. Daher wollen wir alle Interessent:innen einladen, in der Standardisierung aktiv zu sein! Damit die weibliche Sichtweise in der Erstellung von Standards den rechtmäßigen Stellenwert bekommt, möchte ich speziell Expertinnen einladen, mit uns aktiv die Zukunft zu gestalten!

www.austrian-standards.at

www.salzburg-ag.at

Valerie Höllinger

© feelimage, Felicitas Matern

ist seit Jänner 2022 Managing Director von Austrian Standards und seit 2021 Mitglied der Geschäftsführung. Die Juristin, Managerin und Unternehmerin verantwortete als Geschäftsführerin des BFI Wien die Geschäftsbereiche der Privat- & Firmenkunden, geförderte Bildungsprojekte sowie Finanzen und – neben der digitalen Transformation – die Segmente Innovation & New Business, Data Science, Vertrieb, Marketing & PR, Customer Care & Quality. Die gebürtige Wienerin war in den Branchen IT, Telekommunikation, Getränkeindustrie und Erwachsenenbildung als Managerin tätig und langjährige stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende der Bundestheater-Häuser.

Brigitte Bach

 

© Marco Riebler

ist seit Jänner 2021 Vorständin der Salzburg AG für Energie, Verkehr und Telekommunikation und verantwortet hier, u.a. die Bereiche Energieerzeugung, Netzinfrastruktur, Telekommunikation, IT und E-Mobilität. Frau Bach studierte an der Technischen Universität Wien Technische Physik, welches sie 1992 mit ihrer Promotion abschloss. Parallel dazu absolvierte sie das Studium Astronomie an der Universität Wien. Ab 1999 war sie am AIT bzw. dessen Vorgängerorganisation "arsenal research" tätig, wo sie 2005 Leiterin des Geschäftsfeldes "Nachhaltige Energiesysteme" wurde. 2009 nahm sie die Position des "Head of Center for Energy" wahr und wurde Prokuristin am AIT. Im Juni 2018 wechselte sie zur Wien Energie, wo sie das Geschäftsfeld "Telekommunikation, Elektromobilität und New Business" leitete.

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ist seit Jänner 2022 Managing Director von Austrian Standards und seit 2021 Mitglied der Geschäftsführung. Die Juristin, Managerin und Unternehmerin verantwortete als Geschäftsführerin des BFI Wien die Geschäftsbereiche der Privat- & Firmenkunden, geförderte Bildungsprojekte sowie Finanzen und – neben der digitalen Transformation – die Segmente Innovation & New Business, Data Science, Vertrieb, Marketing & PR, Customer Care & Quality. Die gebürtige Wienerin war in den Branchen IT, Telekommunikation, Getränkeindustrie und Erwachsenenbildung als Managerin tätig und langjährige stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende der Bundestheater-Häuser.

Brigitte Bach

 

© Marco Riebler

ist seit Jänner 2021 Vorständin der Salzburg AG für Energie, Verkehr und Telekommunikation und verantwortet hier, u.a. die Bereiche Energieerzeugung, Netzinfrastruktur, Telekommunikation, IT und E-Mobilität. Frau Bach studierte an der Technischen Universität Wien Technische Physik, welches sie 1992 mit ihrer Promotion abschloss. Parallel dazu absolvierte sie das Studium Astronomie an der Universität Wien. Ab 1999 war sie am AIT bzw. dessen Vorgängerorganisation "arsenal research" tätig, wo sie 2005 Leiterin des Geschäftsfeldes "Nachhaltige Energiesysteme" wurde. 2009 nahm sie die Position des "Head of Center for Energy" wahr und wurde Prokuristin am AIT. Im Juni 2018 wechselte sie zur Wien Energie, wo sie das Geschäftsfeld "Telekommunikation, Elektromobilität und New Business" leitete.

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