Ein Leben außerhalb der Berufspolitik, dann mitten in die Politik rein – und das auch noch gleich als Kanzler – jetzt wieder draußen. Das sind Stationen im Leben von denen nicht viele Menschen berichten können. 15 Jahre in der Energiewirtschaft und eine lange Berufskarriere im Bereich der Nachhaltigkeit.
Christian Kern, Bundeskanzler a.D., blickt auf eine steile Karriere zurück und war überaus erfolgreich als Journalist, ÖBB-Chef und Unternehmer tätig: Anfang 20 alleinerziehender Vater, Wirtschaftsjournalist, Referent eines Staatssekretärs, viele Jahre Vorstandsvorsitzender der ÖBB, Bundeskanzler. Darüber hinaus entwickelte er Technologieunternehmen, welche sich mit Fragen der Nachhaltigkeit beschäftigten – von Elektromobilität bis erneuerbare Energien. Gemeinsam beleuchtet LEADERSNET mit ihm aktuelle und zukünftige gesellschaftspolitische und wirtschaftliche Herausforderungen und Entwicklungen.
LEADERSNET: Es soll keine allzu politische Konversation sein, aber Sie gelten für viele als die letzte Hoffnung für die Sozialdemokratie. Das Bild das die SPÖ in den letzten Wochen und Monaten abgegeben hat, wird unterschiedlich interpretiert. Manche sehen einen Erneuerungsprozess, andere ein komplettes Chaos. Wie sehen Sie das?
Kern: Danke für Ihre freundliche, aber überzogene Einschätzung. Ich verfolge die Entwicklungen gespannt. Was den Prozess betrifft, geht es darum, wo unser Land hinsteuert und was Österreich braucht. Wir stehen vor einer riesigen Zeitenwende, vor Anstrengungen, welche ähnlich sein werden, wie nach dem Zweiten Weltkrieg. Vor diesem Hintergrund muss man sich fragen, was sind die Antworten auf der Höhe der Zeit. Das ist das, was ich mir von diesem Prozess erhoffe.
LEADERSNET: Andreas Babler, Pamela Rendi-Wagner, Hans Peter Doskozil. Warum trauen Sie Peter Doskozil zu eine Wahl für die Sozialdemokratie zu gewinnen, und den anderen beiden nicht? Was kann Doskozil was Babler und Rendi-Wagner nicht können?
Mich interessiert nicht so sehr wer der SPÖ-Vorsitzende wird, sondern wohin das Land steuert. Die Vorschläge, welche Doskozil präsentierte, sind eine Basis, um Österreich zukunftsfähig zu gestalten. Wenn sich die Verhältnisse ändern, muss man auch die Antworten auf die Verhältnisse ändern. Wer das nicht tut, hat über die zukünftigen Herausforderungen nicht ausreichend nachgedacht. Mehr möchte ich dazu nicht sagen.
LEADERSNET: Sie waren Alleinerzieher und hatten den Antrieb und den Ehrgeiz da zu sein und auch auf vieles zu verzichten. Viele Alleinerzieher haben finanzielle Probleme und Nachteile am Arbeitsplatz. Wie hat Sie diese Zeit geprägt und was haben Sie dabei gelernt?
Kern: So eine Karriere ist nicht auf dem Reißbrett planbar, sondern vielmehr eine Aneinanderreihung von Zufällen und Chancen, welche sich an Wegkreuzungen ergeben. Glück spielt eine Rolle, aber ich nehme den Satz von Bruno Kreisky in Anspruch, der sagte: "Was bitteschön macht der Depperte mit seinem Glück?" Es ist am Ende Arbeit, Energie und der Wille bestimmte Dinge zu erreichen. Es ist ein Riesenaufwand und diesen zusätzlichen Weg gehst du nicht, wenn es dir nur um die Position oder um das Einkommen geht. Wenn du ein Ziel gefunden hast, das sich lohnt verfolgt zu werden, dann ist das der Antrieb, für das was da kommt.
LEADERSNET: Sie haben diese Laufbahn nicht in die Wiege gelegt bekommen. Sie kommen aus einfachen Verhältnissen und legten eine wahrlich beeindruckende, steile und überaus erfolgreiche Karriere hin. Etwas das nur sehr wenigen gelingt. Was waren über Ihr Leben hinweg Ihre Grundüberzeugungen und Ihre Wertmaßstäbe mit denen sie aufgewachsen sind?
Kern: Ich habe immer alles daran gesetzt, Aufgaben bestmöglich zu erfüllen und zu verstehen, was man daraus machen kann. Management ist ein kreativer Job. Kreativität ist eine Funktion von Wissen. Wissen ereilt dich nicht, wenn du am Sofa sitzt und dich die Muse küsst, sondern ist das Ergebnis von Arbeit. Das ist der erste Punkt. Der zweite Punkt ist Leidenschaft für das was man tut. Du musst das finden, was du liebst.
LEADERSNET: Sie sind im Investment-, Energie- und Bahnsektor tätig. Im Energie- und Bahnsektor kommt es nur zögernd bzw. widerwillig zu Innovationen. Stehen wir an einem Wendepunkt hin zu datengetriebenen Geschäftsmodellen? Wo geht die "Reise" hin? Welche aktuellen Entwicklungen beobachten Sie im Energiesektor?
Kern: Man muss das auf eine höhere Ebene bringen. Die Wahrheit ist, wir erleben einen globalen Wirtschaftskrieg. Europa läuft Gefahr hier an Boden zu verlieren. Wenn wir unser Wohlstandsniveau erhalten wollen und alles was damit verbunden ist – Lebensglück, Gesundheit, Umwelt und ähnliches – dann brauchen wir wirtschaftlichen Erfolg, um diese Ziele erreichen zu können. Wir werden gezwungen sein, produktiver und innovativer zu werden. Wenn die Innovation der Treiber von Produktivitätssteigerungen ist, wird dies notwendig sein, um wirtschaftlich nicht den Anschluss zu verlieren. Hier sind alle Sektoren gefordert und dies wird auch notwendig sein, um den Klimawandel erfolgreich zu begegnen. Wir brauchen neue Technologien in der Energieerzeugung, Energie- und CO2-Speicherung und in der CO2-Vermeidung. Das sind riesige Aufgaben, die hier vor uns liegen. Ich hatte das Glück im Energie-, Verkehr- und Logistikbereich Verantwortung zu tragen. Climate-Tech und grüne Technologien haben nichts mehr mit altruistischem Wunschdenken zu tun, sondern stehen kommerziell vor einer neuen Blütephase.
LEADERSNET: Die Regierung in Deutschland plant bis 2030 sechs Millionen Wärmepumpen. Die geplante Einführung einer Rationierung des Stroms für Wärmepumpen und E-Autos sorgt bei unseren Nachbarn für große Diskussionen. Und auch andere Länder denken über ein ähnliches Vorgehen nach. Grund dafür ist, dass immer mehr Nachfrager aus Öl- und Gasheizungen raus wollen und dies wiederum die Nachfrage nach Strom massiv in die Höhe treibt. Was ist Ihr Standpunkt dazu?
Kern: Das ist eine skurrile Diskussion, da wir alle Voraussetzungen haben, um unsere Energieerzeugung CO2-frei zu machen. Das existiert alles, man muss es nur umsetzen. Da braucht man einen "Generalstabsplan" und hinter diesen muss man sich stellen. Dann ist es auch möglich, gesetzte Ziele zu erreichen und man muss auch nicht über Rationierungen diskutieren. Wir haben in Europa unser Potential am Ausbau von erneubaren Energieträgern bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Das gilt für die Sonne und den Wind. Bei Wasser sind wir am weitesten vorangeschritten.
LEADERSNET: Das inflationäre Umfeld machte deutlich, wie abhängig wir von anderen Ländern sind, wenn es zur Sicherstellung leistbarer Energie kommt. Was sind mögliche Lösungsmöglichkeiten in naher Zukunft ? Die USA scheinen uns hier weit voraus zu sein, was zu Wettbewerbsnachteilen für Europa beiträgt und den Wirtschaftsstandort unattraktiver macht.
Kern: Fakt ist, dass trotz der gesunkenen Energiepreise unsere Haushalte und Unternehmen drei bis vier Mal so viel bezahlen, als in den USA oder in Ost-Asien. Das sind auf Dauer massive Wettbewerbsnachteile und ist eine Reduktion von Lebensstandards. Deshalb brauchen wir die Energiewende so rasch, da dies ein Mittel ist, um die Preis runter zu bringen. Wind und Sonne haben keine variablen Kosten und so können die Gesamtkosten reduziert werden. Es gibt Ansichten, dass China die USA überholen wird. Andere meinen Indien wird die neue Supermacht werden. Aber die Wahrheit ist, wenn man sich die Zahlen ansieht, dann sind die USA nach wie vor ein wirtschaftliches Powerhouse. 50 Prozent der weltweiten F&E-Ausgaben (Forschung & Entwicklung – Anm. d. Red.) werden von amerikanischen Unternehmen getätigt. Das mündet in Innovationen, neuen Produkten und in deren Kommerzialisierung. Es braucht ebenso in Europa ein entsprechendes Mindset, um hier nicht abgehängt zu werden. Auf der anderen Seite gilt der Inflation Reduction Act von Biden als vorbildhaft. In dieser Hinsicht sind die USA Europa jedoch 20 Jahre hinterher.
LEADERSNET: Wenn man die Energiepreise analysiert, das Gas, welches aus Russland, aus Norwegen, den Nordseeländern nach Europa gekommen ist und sich die Preise ansieht, welche an den Börsen gehandelt wurden, gab es Aufschläge um ein Vielfaches. Das alles haben die Konsumenten und Unternehmen zu bezahlen. Das Problem, welches wir haben, ist durch die russische Aggression entstanden, jedoch haben davon auch unglaublich viele profitiert. Was kann man für die Zukunft daraus lernen?
Kern: Wir brauchen Leistung als Grundmotiv in unserer Gesellschaft. Die Menschen, die in den Unternehmen arbeiten und die Gesellschaft am Laufen halten, die müssen sehen, dass sich ihre Anstrengungen lohnen. Was wir im Energie- und Bankensektor sahen, ist, dass immer dieselben gewinnen, aber wenn es nicht gut läuft, die Steuerzahler einspringen. Das ist Gift für eine Gesellschaft, da dies den Zusammenhalt zerstört. Spekulationsgewinne dürfen nicht zulasten von Menschen gehen, welche ohnehin Probleme beim täglichen Einkauf im Supermarkt haben. In solch einer Gesellschaft will ich nicht leben. Hinzu kommt, dass viele Energieunternehmen mehrheitlich in staatlicher Hand sind, diese ihre Gewinne verdreifachen und ihren Kunden (welche paradoxerweise ihre Eigentümer sind), dann drei- bis vierfach so hohe Energiepreise verrechnen. Hier stimmt etwas nicht und dies halte ich für ein kapitales Politikversagen.
LEADERSNET: Sie investieren in Israel, Deutschland, USA und Österreich. In Österreich etwas weniger. Woran liegt das? Was braucht es in Österreich um zu anderen Ländern im Start-up-Bereich aufzuholen? Was sind die kulturellen Differenzen die Sie vorfinden? Sind die Mentalitäten unterschiedlich? Welches Land war das härteste Pflaster?
Kern: Ich war in Israel immer von der Mentalität der Leute fasziniert und dem System, das die Menschen dort aufgebaut haben. Der Unternehmergeist, der Glaube an die Zukunft – diese Anstrengungen führen zu Ergebnissen. Ich kann mich an einen israelischen Jungen Mann erinnern, der mit seinem Start-up im Bahnsektor aktiv ist. Dazu muss man sagen, dass Israel zum damaligen Zeitpunkt ungefähr so viele Bahngleise hatte, wie die Vöest am Werksgelände. Also eher vernachlässigbar. Ich empfing ihn der Höflichkeit wegen und wollte ihn nicht seiner Motivation berauben. Ich sah mir das an und er erklärte mir, wie er die Bahnwelt revolutionieren möchte. Als er ging, dachte ich mir, der schafft das vielleicht wirklich. Er hat vielleicht nicht die idealen Voraussetzungen und Ressourcen, aber den unbedingten Willen und die Kreativität, Dinge neu zu denken und neue Perspektiven zu entwickeln. Das Unternehmen hat sich dann gut entwickelt. Begeisterungsfähigkeit ist das eine. Das zweite ist Hilfsbereitschaft – man hilft dort jemanden und fragt nicht warum. In Europa, Deutschland und Österreich denkt man häufig in der "uneigennützigen Boshaftigkeit" (es hilft mir zwar nicht, aber den anderen schadet es). Man ist mehr in den Misserfolg des anderen verliebt, als in den Erfolg des eigenen Tuns.
LEADERSNET: Welche Erfahrungen haben Sie mit Osteuropa gemacht? Die Menschen verdienen in Osteuropa weniger als bei uns, jedoch empfindlich niedriger sind deren Lohnnebenkosten. Wir befinden uns in einem globalen Wettbewerb und viele Unternehmen wollen sich das zu Nutze machen. Herrscht dort immer noch Aufbruchsstimmung?
Kern: Wir haben viele europäische Kunden, die in Osteuropa sitzen. Ich habe nicht das Gefühl, dass die Dynamik der Entwicklung dort abreißt. In Regionen in Rumänien und Ost-Ungarn haben wir Lohnniveaus, welche nicht höher sind als im Großraum von Shanghai. Hier gibt es einen Nachholbedarf, welcher durch "Nearshoring" weiter angetrieben wird.
LEADERSNET: Die Mieten sind kaum leistbar, eine eigene Wohnung ist für viele junge Menschen in größter ferne, ob das Pensionssystem in 30 oder 40 Jahren funktionieren wird, ist sehr ungewiss. Unternehmen und private Haushalte kommen immer schwieriger an Kapital. Nur jene Private wie Unternehmen kommen an Finanzierungen und Kredite, welche sie erst gar nicht benötigen. Die derzeitige Inflation trifft jene härter die ohnehin jetzt schon mit wenig ihr Auskommen finden müssen. Die Mechanismen, Leistung, Aufstieg, Sicherheit scheinen aus dem Ruder geraten sind. Was sind die großen Herausforderungen in diesem Zusammenhang?
Kern: Wir haben eine Phase hinter uns, wo wir eine massive Bevorzugung von Finanzinvestitionen im Vergleich zu realwirtschaftlichen Investitionen sahen. Dies steht eng in Verbindung mit den niedrigen Zinssätzen. Immobilien und andere Vermögenswerte sind massiv in die Höhe gegangen. Phänomene wie Bitcoin sind entstanden und auch Luxusgegenstände zogen massiv an Wert an. Spekulationsgegenstände also an allen Ecken und Enden. Viele Arbeitnehmer konnten hier nicht mehr mithalten. Die Geldpolitik der EZB führte folglich zu einer massiven Ungleichheit in der Gesellschaft. Die Einkommensentwicklung für realwirtschaftlichen Leistungen stand in keiner Relation zur Aufwertung anderer Vermögenswerte.
LEADERSNET: Im April kam es für viele Mieter zu einer kräftigen Erhöhung der Mieten. Um das zu verhindern, wurde der Mietpreisdeckel diskutiert. In Graz wurden bei den städtischen Gemeindewohnungen auf Initiative von Elke Kahr Mieterhöhungen ausgesetzt. Ein Wohnkostendeckel wurde ebenso im Burgenland umgesetzt. So manch einer fragt sich, ob da nicht die die Hausaufgaben des Bundes umgesetzt werden. Diesbezüglich konnte die Regierung aber keine Einigung erzielen, stattdessen soll eine zusätzliche Wohnkostenhilfe, welche die BürgerInnen insgesamt schlechter stellt, da es sich um eine einmalige Hilfe handelt. Es kommt folglich zu Wohlstandsverlusten für die Bevölkerung. Österreich hinkt im internationalen Vergleich hinterher. Frankreich hat beispielsweise bereits im Juli 2022 für eine Mietpreisdeckelung abgestimmt. Spanien und Portugal darf der Mietzins pro Jahr um höchstens zwei Prozent angehoben werden. Frankreich deckelt die jährliche Erhöhung auf maximal 3,5 Prozent. Die Niederlande zogen ebenso maximale Grenzen der Mieterhöhungen ein (4,1 Prozent). Werden da nicht gerade jetzt viele Menschen von der Politik im Regen stehen gelassen?
Kern: Der Grund, warum in den zitierten Märkten die Inflation geringer ist, ist dass es strukturelle Eingriffe gab. Diese Länder machten dasselbe bei den Energiemärkten. Spanien hat weniger als die Hälfte der Inflation als in anderen Ländern und dies entstammt einer entschlossenen Politik. Seit März 2021 versuchte ich das plausibel zu machen, dass hier der Lebensstandard der Menschen extrem gefährdet ist und auch Unternehmen darunter massiv zu leiden haben. Niemand wollte das hören und jetzt bekommen wir die Quittung dafür. Politik hat hier Verantwortung wahrzunehmen. Politik soll sich jedoch nicht zu sehr in die Wirtschaft einmengen, da dies die Innovationskraft schmälert.
LEADERSNET: Manager des Jahres, beste Jahresergebnisse beim Verbund, die Bahn mit der höchsten Kundenzufriedenheit und pünktlichste Eisenbahn in der EU – dann kam die Politikphase, die aber anders lief als sie es sich vorgestellt hatten. Was haben Sie daraus gelernt?
Kern: Ich bin sehr dankbar, dass ich das machen durfte. Ich habe viele interessante Erfahrungen gemacht und meine Weltsicht hat sich nochmals verändert. Am Ende sind es, wie so oft, die Begegnungen mit Menschen. Dies war eine enorme Bereicherung und ich möchte diese Zeit nicht missen – wiederholen muss ich dies jedoch auch nicht.
LEADERSNET: Joschka Fischer sagte, Macht macht einsam. Politiker, Führungskräfte fahren das größte Auto, das größte Büro, wo man hinkommt wird man hofiert. Dies verführt dazu zu glauben man selbst sei dies und seine grandiose Persönlichkeit und nicht die Rolle, in welche man schlüpft. Ist bei vielen der Persönlichkeiten die Zeit nach der Politik nicht von persönlicher Tragik gezeichnet? Wie bleibt man da am Boden? Gibt es auch Entzugserscheinungen bei Politikern nach Machtverlust? Ist das Problem der Politik nicht, dass die meisten Politiker ihr Leben lang nichts anderes machen?
Kern: Politisches Handwerk zu verstehen ist eine wichtige Voraussetzung. Aber ein Leben lang Politiker zu sein, ohne sich jemals in einer anderen Aufgabe bewährt zu haben, ist auch problematisch. Nur politisches Handwerk zu verstehen, ist zu wenig. Man braucht beide Erfahrungswelten und beide Inspirationen. Dazu kommt die Persönlichkeitsbildung. Römischen Imperatoren wurde bei ihrer Krönung durch Sklaven ins Ohr geflüstert, dass sie sterblich sind – ein Mittel um am Boden zu bleiben. Eine Erinnerung daran, wie alles Irdische endet.
LEADERSNET: Die großen politischen Parteien, die Etablierten, haben aus deren Abstieg der letzten 20 Jahren erst sehr spät bemerkt, dass sie eigentlich ein totes Pferd reiten. Die Zeit der Landeskaiser scheint vorbei zu sein – blickt man auf die letzten Wahlen. Unsere Gesellschaft verändert sich, dennoch wird nach wie vor ein Funktionärsdenken verfolgt und es herrschen politische Strukturen vor, welche in erster Linie die eigenen Interessen verfolgen und nicht die des Volkes. Erleben wir nicht zunehmenden Populismus und erleben wir nicht die Tatsache, dass Politiker sagen was die Leute hören wollen und nach Umfrageergebnissen entscheiden und auch nicht nahe genug bei den Menschen sind (Stichwort: Bobo Gesellschaft). Wollen Menschen nicht wieder wahrhaftige Menschen sehen, die verletzlich sein können und zu ihren Schwächen stehen und nicht perfekt sind?
Kern: Ich bin skeptisch, wenn Politik auf charakterliche Fragen zurückgeführt wird. Hier werden häufig Zerrbilder in der Öffentlichkeit produziert, die den wirklichen Personen nicht gerecht werden. Wir haben jedoch ein strukturelles Problem, welches Sie angesprochen haben. Politik ist die Kunst reale Lebensverhältnisse zu verändern. Leider erleben wir, wie die Kurz-Ära bestätigte, eine Politik, welche nur den kurzfristigen Effekt im Auge hat. 95 Prozent in der Politik ist Inszenierung. Wir haben mit Herausforderungen zu kämpfen, welche so groß sind, wie seit Jahrzehnten nicht mehr und sind mit einer politischen Elite konfrontiert, die nicht geprägt wurde, unsere Probleme zu lösen.
LEADERSNET: Politik entscheidet sich mehr anhand großer Wellen, welche den gesellschaftlichen Entwicklungen mit sich bringen. Sie setzten sich mit der Frage auseinander, ob der Führer seine Zeit und die Gesellschaft oder die Gesellschaft und die Zeit den Führer prägen. Sucht sich die Zeit ihre Führungsfiguren? Beobachtet man populistische Bewegungen, so ist eher auf Zweiteres zu schließen.
Kern: Es gibt manchmal historische Einzelpersonen, wie Winston Churchill, der in den 40er in der Lage war, seine Zeit zu prägen. Aber im Regelfall passiert es umgekehrt. Man sollte nicht überschätzen, wie viel Spielräume ein Parteivorsitzender oder Bundeskanzler hat. Die Beinfreiheit ist meist relativ eingeschränkt. Die Person, welche gewählt wird, ist somit zumeist ein Produkt gesellschaftlicher Strömungen. Sebastian Kurz hat 2017 auf dem Höhepunkt der Migrationskrise gepasst. Heute sehen wir einen Aufschwung populistischer Strömungen, da Menschen mit ihren Lebensverhältnissen nicht mehr ihr Auslangen finden und einfache Lösungen erwarten.
LEADERSNET: Beobachten wir in unserer Welt, dass die Inszenierungswellen nicht extrem zugenommen haben? Nicht nur in der Politik, sondern ebenso in der Wirtschaft und im Social Media. Denken wir an Mitmenschen aber auch an Unternehmen wie WeWork, Theranos (Bluttests). Diese stellten sich dann als Marketingblasen heraus. Zieht sich das durch unsere Gesellschaft – das als ob, das Vorgeben etwas bestimmt Besonders zu sein?
Kern: Dies hat definitiv zugenommen. Wir leben in einer "Als-ob-Gesellschaft". Nur der Schein ist wirklich rein. Sie haben vollkommen recht, das gilt in der Politik als auch in der Unternehmenswelt. Man könnte Ihre aufgezählten Beispiele beliebig verlängern – von Uber abwärts. Es geht rein um die Projektion von zukünftigem Erfolg, welcher real keine Grundlagen hat. Hinzu kommen Phänomene wie Instagram oder TikTok, wo jungen Menschen Lebenswelten vorgeführt werden, wonach sich Erfolg selbst generiert. Natürlich bleibt das eine Schimäre. Wir werden jedoch wieder Phasen haben, wo diese trügerischen Inszenierungen entlarvet werden.
LEADERSNET: Was ist der beste Ratschlag, den Sie für ihre berufliche Laufbahn und Ihr Leben je erhalten haben? Was ist die wichtigste Lektion, die Sie aus all dem gelernt haben?
Kern: Meine Ratschläge entwickelten sich durch meine eigenen Erfahrungen. Gerade aus meiner Politikphase nahm ich mit: "Mäßige dein Urteil." Vor allem über andere Menschen. Man soll nicht zu schnell dem ersten Anschein folgen und reflexhaft urteilen – schon gar nicht wenn es verletzlich, abwertend oder geringschätzend ist.
LEADERSNET: Was wissen Sie heute über die Wirtschaft, die Politik oder das Leben, was Sie gerne bereits vor 30 Jahre darüber gewusst hätten, wie Sie damit angefangen haben?
Kern: Wie wichtig die Fähigkeit ist, warten zu können. Viele Menschen tun sich schwer den Wert des Warten-Könnens zu verstehen.
LEADERSNET: Sie haben einen Hund und gehen regelmäßig in die Hundeauslaufzonen. Was hat sie ihr tierischer Weggefährte gelehrt? Können Tiere nicht auch lernen, menschlich zu sein?
Kern: Absolut. Ich beobachte das jeden Tag, wie im unmittelbaren Moment der Hund in der Lage ist zu leben. Keine Zukunft und keine Vergangenheit, sondern das Jetzt genießen. Hunde sind Spezialisten im Jetzt. Faszinierend.
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