"Gestern war ich in einem kleinen Laden und wollte Milch kaufen. Dann schenkten sie mir die Milch, weil sie wussten, dass ich Pfleger bin. Es ist unglaublich, welche Wertschätzung wir plötzlich erfahren. Hoffentlich bleibt das – wenigstens noch ein bisschen – ja, das wäre schön", sagte ein Mann, der seit über 30 Jahren als Pfleger in einer Klinik arbeitet, vor wenigen Tagen in einer Fernsehsendung. Ja, dachte ich mir, genau um seinen kurzen letzten Satz geht es – schon seit Jahren!
Wenn es der Automobilindustrie schlecht geht oder einem Sportschuhhersteller, dann fließen gleich Riesenkredite. Dass es aber den Servicehelden dieses Landes schon seit Jahrzehnten schlecht geht – Krankenschwestern und Altenpflegern, Reinigern und Housekeeping-Mitarbeitern, Supermarktkassiererinnen und Kellnern, Busfahrern und Paketbotinnen – das interessiert so gut wie niemanden. Gut, es wird nun am Abend mancherorts aus den Fenstern herausgeklatscht. Als Dank an das Pflegepersonal und an die Ärzte, wie es heißt. Mich erinnert das Klatschen eher an den Applaus nach gelungenen Ferienflieger-Landungen. Da geht es auch nicht wirklich um einen Dank, da klatscht man sich die eigene Angst aus den Knochen und lässt der Erleichterung Lauf, dass man mit dem Leben davongekommen ist. So, wie jetzt auch. „Es ist Corona, und ich lebe immer noch. Danke!" Es ist ein etwas verlogenes Dankeschön.
Dienstleistung als Leistung anerkennen
Verlogen deshalb, weil dem oberflächlichen Geklatsche keine real messbare Anerkennung folgt. Das Gegenteil ist der Fall. Wer sich um Maschinen kümmert, steht in diesem Land besser da als jemand, der sich um Menschen sorgt. Dabei hängt das Glück dieses Landes ganz offensichtlich sehr viel weniger von Autos und Sportschuhen ab als von den Tausenden Frauen und Männern, die sich jeden Tag für andere aufreiben. Unter anstrengenden Bedingungen zumeist, weil Marge im Business mehr zählt als Menschen. Bei schlechter Bezahlung, weil Marge im Business mehr zählt als Menschen. Und dafür, dass Dienstleister an der Basis so viel "Drecksarbeit" und so wenig Marge machen, werden sie auch noch mit einem unterirdischen Ansehen in unserer Gesellschaft gestraft.
Verstehen Sie mich bitte richtig: es geht mir nicht um ein "entweder Menschen oder Maschinen". Aber wie wir mit Dienstleistung vielfach umgehen, ist unmenschlich. Es ist ungerecht. Und es ist sowohl wirtschaftlich als auch sozial kurzsichtig, weil Fachkräftemangel unter miserablen Arbeitsbedingungen und schlechtem Ansehen die logische Folge ist, und als nächste Folge der Untergang "systemrelevanter" Strukturen ganz real vor der Tür steht: Krankenhäuser müssen ganze Abteilungen schließen und Pflegeheime auch, Pakete kommen verzögert an, und in den Schulen stinken nicht nur die sanitären Anlagen gen Himmel.
Eine historische Chance für Servicekultur
Ich sage seit vielen Jahren: Dienstleistung braucht einen anderen Stellenwert in unserer Gesellschaft. In den Köpfen und Herzen der Menschen, auf der Gehaltsabrechnung der Mitarbeiter und im Geldbeutel der Kunden. Wir brauchen in unserer Gesellschaft eine komplett andere Einstellung und Wertschätzung gegenüber denjenigen, die wir jetzt vordergründig als Servicehelden feiern.
In Heldengeschichten gibt es Spieler und Gegenspieler. Ich meine: Unser Gegenspieler ist nicht ein kleines Virus, es ist auch nicht die neue, große Wirtschaftsmacht China und auch nicht der überfällige Umbruch der hiesigen Automobil- und Turnschuhindustrie. Der gefährlichste Gegenspieler in dieser Zeit ist eine Haltung, die Margen und Maschinen systematisch aufwertet und Menschen systematisch abwertet. Systemrelevant sind die Menschen. Die Menschen! An diesem Punkt müssen wir unsere Haltung vom Kopf auf die Füße stellen. Sofort. Jetzt. Sonst verheizen wir die wichtigsten Menschen, die wir in diesem Land haben, und stehen dann ungebildet, ungepflegt und trostlos da.
Diese seltsame Zeit hat uns jäh gezeigt, was wirklich wichtig ist. Es ist eine historische Chance. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass wir diese Erfahrung nicht vergessen, wenn sich das Virus verzogen hat, und unseren Serviceheldinnen und Servicehelden dann endlich das geben, was sie verdienen: gutes Geld, gute Arbeitsbedingungen und jede Menge Respekt. Wenn das gegeben ist, dann klatsche ich am Abend auch gerne mit.
www.sabinehuebner.de
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